02.12.2019, 12:48
Ich wünsche einen schönen Montag und viel Spass beim Lesen!
"Was ist passiert?", fragte Liam, "Ich wurde angeschossen ... und war im Krankenbett?"
Ron nickte. "Ja. Boone war sogar recht geknickt über Ha'gels Tod, er wollte ihn auch nur anschießen." Er richtete sich auf und atmete tief durch. "Sie wollten an mich ran", sagte er dann, "Dr. Belman hat mein CVI untersucht. Ich habe den Test nicht bestanden."
Liam klappte den Mund auf. "Was?"
"Der Imperativ ist da, meinte sie."
"Blödsinn", konstatierte er, "Da wäre dann doch wohl einiges anders gelaufen."
"Was, wenn sie recht hat, Liam?", fragte Ron besorgt, "Was, wenn der Imperativ nur schläft und abwartet, bis es sich lohnt?"
"Es hätte sich gelohnt, als ich tot war und Sie mit Zo'or vor dem Zeitportal standen!", sagte Liam fest, "Oder widersprechen Sie mir da?"
"Kommt darauf an, wem der Imperativ folgt. Für die Taelons allgemein war die Situation wenig ideal, für Da'an eine Katastrophe. Immerhin folgt der Imperativ also nicht Zo'or, aber das ist keine Garantie, dass ich ungefährlich bin."
Liam seufzte leise. "Meinetwegen ..." Er legte seine Hand in die Einbuchtung und berührte dann die erscheinende glattweiß strahlende Fläche. Liam verschwand, dann verschwand auch das Portal. Zehn Meter entfernt erschien dann erst das Portal wieder, dann auch Liam, der sich sogleich auf den Weg zurück zur Gruppe machte. "So. Damit habe ich am Anfang der inneren Schleife notfalls allein die Kontrolle. Ist Ihnen das so recht?"
Ron nickte. "Ich hoffe, das genügt."
"Wahrscheinlich hat sie eh nicht recht", kam unerwarteterweise von Augur, "Ein CVI, das von Anfang an keinen Imperativ hat, sieht sicher sehr anders aus als eines, in dem der Imperativ kaputt ist."
Als Ron Ava ansah, hob sie entschuldigend die Hände. "Ich kenne mich damit nicht aus. Ich weiß nur, dass du sehr anders bist als Lindsay oder Arias."
"Hm", machte er, "Was hast du noch erlebt?"
"Ich bin nur blöd auf einem Feldbett rumgesessen, nichts weiter."
"Augur?"
"Mich hat Dr. Belman auch untersucht", tat der Hacker kund, "und ich habe bestanden. Das hat alle verwundert, weil sie in meinem Kopf auch ein CVI erwartet haben." Er grinste breit. "Und deswegen hat mir Augur das Kennwort verraten: Vienna Red Socks Nirvana Blueberry Diamond Paramilitary Band."
"Das ist ein Kennwort?", fragte Liam verdutzt.
"Je länger, desto besser, und Wörter merkt man sich besser." Augur klatschte mit den Händen. "So, was machen wir jetzt?"
Ron sah zu Liam. "Planen und ausprobieren. Die erste Frage ist, wie wir ungesehen in die Kirche kommen."
"Wir machen das jetzt also", stellte Ava fest, "Wir retten Ha'gel und Boone."
Liam nickte. "Wenn es irgendwie geht, ja." Er kratzte sich am Kopf. "Augur, unter der Annahme, dass du die Zertifikate hast, was machst du dann?"
"Dann kann ich mit meinem Global zwischen die Kameras und den Überwachungsserver und Bilder von kurz zuvor einspielen. Oder sogar Videobearbeitung im Live-Feed, wenn wir nicht zu sehen sein sollen, aber sich etwas anderes im Aufnahmebereich auch noch bewegt. Ist auch machbar."
"Aufwändig?"
"Nein, sobald ich die Zertifikate habe, ist das Kleinkram."
Ron überlegte kurz. "Müssen Sie für die Zertifikate unter die Kirche oder haben Sie die auch noch woanders?"
Jetzt grinste Augur. "Natürlich auch woanders. Liam, wenn du uns mit dem Portal direkt reinbringen kannst, dann kann ich den Alarm abdrehen, bevor er rausgesendet wird. Ich bin ja schließlich ich, nicht wahr?"
Liam rollte kurz mit den Augen und wies auf das zehn Meter entfernte Portal. "Also gut." Er eilte wieder dorthin und legte seine Hand in die Einbuchtung, dann erschien die weiße Fläche im Portal. Augur, Ava und Ron traten hindurch und fanden sich in einem Raum mit einer riesigen Computeranlage wieder.
In einer Hologrammsäule schimmerte durchscheinend ein Hologramm von Lili in aufreizender, schwarzer Spitzenunterwäsche, inklusive Strapse, und es zählte gemächlich von zehn abwärts.
"Lili, Lili, ich bin es!", Augur stürzte auf sie zu und stellte sich möglichst zwischen sie und seine Begleiter, "Hologramm deaktivieren!"
"Ooooch", machte das Hologramm und zog eine Schnute, dann verschwand es.
"Hat Lili das mal rausgefunden?", fragte Ava breit grinsend.
Augur zog die Brauen zusammen. "Ja. Sie hat sie mir emanzipiert und angezogen, inklusive einer absolut unmöglichen Perlenkette."
"Na dann ..."
Er ließ seine Finger fliegen, es war nur das Klacken der Tastatur zu hören, bis er wenig später sein Global öffnete und zufrieden grinste. "So, da hätten wir die Zertifikate. Wir können wieder gehen." Er schlenderte zum Portal und blieb davor stehen. "Sag mal, Liam, kann das Portal nicht eigentlich die Zertifikate speichern? Das Global vergisst sie ja, aber was im Portalspeicher ist, bleibt doch."
"Der Portalspeicher besteht nur aus dem Befehlsspeicher und dem Reisespeicher", erklärte Liam, "Speicher, der dem Benutzer zur Verfügung steht, gibt es nicht."
"Hm. Ich könnte die Zertifikate in Dummy-Befehlsblöcke packen, aber da wäre ich ein paar Stunden dran. Naja, es ging ja eh ganz einfach, sie zu holen, dann machen wir das im nächsten Durchgang eben wieder." Mit diesen Worten stieg Augur durch die noch immer schimmernde Fläche im Zeitportal.
"Nach euch!", sagte Liam, also stiegen auch Ava und Ron durch das Portal, zurück in die vermüllte, enge Gasse. Liam trat sogleich nach ihnen heraus. "Augur, wie nahe musst du an die Kirche ran, damit du den Zugriff auf das Überwachungssystem hast?"
"Vor das Tor, dann komme ich über das W-LAN der Sakristei rein."
"Das was?"
"Ja, noch gibt es das ja. In der Schießerei hat Ha'gel oder Boone dann den Router zerlegt und der Pastor hat ihn nicht ersetzt, wegen der schlimmen, schlimmen Strahlenbelastung. Ehrlich, in der Ruine hätte ich mir an seiner Stelle mehr Sorgen um Feinstaub gemacht ..." Augur zuckte mit den Schultern. "Aber des Pastors Verschwörungstheorie ist sein Himmelreich, oder so."
Ron straffte sich. "Was tun wir dort? Liam, haben Sie schon einen Plan?"
Der Kimera schüttelte den Kopf. "Ich erinnere mich an die Schießerei ja nicht, von daher würde ich in diesem Durchgang eher einfach beobachten. Oder haben Sie einen besseren Vorschlag?" Er sah zu Augur. "Oder du?"
Der Hacker musterte Liam fast entrüstet. "Wir könnten auch einfach die Videos ansehen, die ich auf meinem Global habe!"
"Und wenn etwas einen neuen Blickwinkel braucht, wissen wir dann, wohin wir uns stellen müssen", warf Ava ein, "Gehen wir gleich hin oder sehen wir es hier an?"
"In der Kirche ist derzeit nichts los", sagte Augur, "Solange wir nicht bemerkt werden, und dafür sorge ich ja, wird uns niemand dazwischenfunken. Ob hier in der Gasse jemand käme, weiß ich nicht."
"Allemal sollten wir das Portal wieder abdecken. Helft mir mal", sagte Liam. Er entfaltete eine grobe, grüne Kunststoffplane, die er dann mit Hilfe seiner Begleiter über das Portal warf. "Also dann, gehen wir, es ist ja nicht weit", sagte er dann und eilte zielsicher voran.
Wenig später hatte die Gruppe Zeitreisende die engen Hintergassen hinter sich gelassen und folgte nun einer breiten Straße. In nicht zu weiter Entfernung war auch bereits die Kirche zu sehen, unter der sich der Widerstand eingenistet hatte. Die gotische Fassade war durch Scheinwerfer hell erleuchtet, die Straßenlaternen verblassten dagegen.
Vor einem kleineren Tor an der Seite blieb Augur stehen und zückte sein Global. "Da ist es", sagte er, "Der Pastor hat das W-LAN wenig kreativ einfach Jesus genannt." Er tippte konzentriert auf der winzigen Globaltastatur, dann ploppten sieben kleine Fensterchen mit Kamera-Feeds auf. "Ich erstelle jetzt für jede Kamera eine 360°-Abbildung der Umgebung, dann kann ich auch Kamerabewegungen abfangen", erklärte er murmelnd, "Für ein paar Sekunden übertrage ich Standbild, damit ich die Kameras bewegen kann, danach ist die Abbildung fertig und wird verwendet." Ein Eingabefeld sprang auf, wieder tippte er, dann wartete er kurz ab. "So. Fertig. Wir können rein."
Die vier betraten durch das kleine Tor das Kirchenschiff, diesmal spazierten sie die weißen Treppenstufen hoch und zum Altar und setzten sich dahinter auf den Boden. "Hier kommt normalerweise überhaupt keiner her, außer halt dem Pastor", sagte Augur, "und der kommt morgen gar nicht. Montags ist keine Messe."
Ron wies auf das Global. "Die Aufzeichnung."
"Ja, schon gut." Der Hacker schob die Kamerakontrollen beiseite und öffnete ein Multikamera-Video. "Wir können jederzeit zwischen den Kameras wechseln", erklärte er, "Die Kamerasprungmarken sind aber so, dass man immer den besten Überblick hat." Er startete, stoppte dann aber gleich wieder. "Leute, drängt euch nicht so hinter mir!", tat er mit einem Anflug von Ärger kund, "Wisst ihr was, ich streame auf eure Globals, so."
Ron wich etwas zurück und zückte sein Global, Ava und Liam taten es ihm gleich. Er akzeptierte den Stream, dann erschien das Überwachungsvideo auf seinem Global.
Zu Beginn des Videos war nur Siobhán Beckett in der Kirche und sie sah sich jede Ecke genau an. Sie sah auch hinter den Altar, die Gruppe würde für dann also ein besseres Versteck finden müssen. Nach nicht einmal zehn Minuten aber fand sie schon den DNA-Sensor.
Sie rief Ron an, oder vielmehr Ha'gel. Und dann wartete sie auf ihn, und er war schnell, bereits nach vier Minuten kam er in der Kirche an.
Ron runzelte die Stirn. "Das verwundert mich. Wie war er so schnell da? Der verdammte Müllcontainer ist weiter weg als vier Minuten und das Auto hat er nicht benutzt, das stand noch dort, als ich aufgewacht bin!"
"Taxi", sagte Liam, "Er hat sogar bezahlt."
"Die Vorstellung eines Aliens im Taxi ist recht merkwürdig", stellte Ron fest, "andererseits, Sie sind auch schon Taxi gefahren."
"Und ich habe auch immer bezahlt!"
Das wollte er wohl hoffen! Er wollte keinen Taxipreller als Sohn.
"Er macht ihr ganz ordentlich schöne Augen!", wechselte Ava das Thema, "Und sie ist offenbar überhaupt nicht abgeneigt."
"Nein, war sie nicht", sagte Ron knapp. Warum musste ausgerechnet Ava das ansprechen? Ihr gegenüber wollte er sein vergangenes Nicht-Liebesleben eigentlich nicht allzu sehr breittreten.
Kurz war es still. Auf den kleinen Bildschirmen löste sich Ha'gel in kleine wirbelnde Energiefetzen auf und hob Siobhán in die Höhe.
"Kannst du dich eigentlich auch so auflösen, Liam?", fragte Augur.
"Nie probiert", gab Liam zurück, "Könnte ich mal, aber nicht jetzt."
"Können Taelons das?", fragte jetzt Ava.
"Nein." Kurz war er still. "Naja, ja, aber normalerweise überleben sie es nicht, bei dem Energiemangel, den sie haben. Ist daher eher eine Möglichkeit, Selbstmord zu begehen, als sich fortzupflanzen."
Ava blinzelte. "Oh."
"Oh!", machte auch Augur, ihm war seine Frage sichtlich peinlich.
Auf den kleinen Bildschirmen legte Ha'gel Siobhán inzwischen wieder ab, und sofort wurde er von Boone in Deckung gezwungen. "Wir könnten da ebenfalls in Deckung liegen, dort zwischen den Bänken", überlegte Ron, "Boone sieht das nicht und Ha'gel ist abgelenkt." Er beobachtete die Schießerei, Ha'gel landete auch zwischen den Bänken. "Nur, wie kriegen wir ihn da raus? Nach hinten rausrobben?"
Ava sah zu ihm. "Er müsste liegenbleiben", schlug sie vor, "und ... der ältere Ha'gel steht statt ihm wieder auf." Sie sah wieder auf ihr Global. "Wann steht er auf? Er liegt da nur rum ..."
"Wir haben leider keinen Ton", sagte Augur, "aber Boone offenbart sich gerade als Widerstand, glaube ich."
"Wir müssten den älteren Ha'gel vorher rein kriegen", überlegte Ron, "aber Siobhán würde ihn doch finden!"
"Wir müssen auch den jüngeren raus kriegen, bevor die Polizei ihn findet", ergänzte Augur, "Da kommt sie."
Die Polizei, ja. Die Polizei stieß gerade das Haupttor auf und machte Boones Versuche zunichte. Ha'gel bedrohte die Polizisten, Boone schoss ihn dafür nieder, wurde aber auch selbst getroffen.
Boone war schwer verletzt, Ha'gel hingegen hinterließ ein grelles Aufblitzen und dann ein Loch in der Landschaft.
Ron beobachtete die Suche der Polizisten. "Es könnte klappen. Es sind doch ein paar Sekunden, die Ha'gel da schon steht, bevor die Polizei kommt. Da könnte man vielleicht ganz leise hinten wegrobben. Müsste man ausprobieren."
"Sollen wir?", fragte Liam, "In diesem Durchgang?"
Ron verzog in Anbetracht der ihm blühenden Schmerzen sein Gesicht. "Wir haben keinen älteren Ha'gel zur Verfügung. Das heißt, ich muss den Part übernehmen und mich von Boone erschießen lassen." Er straffte sich. "Also gut, das schaffe ich", sagte er, "nur leuchtende Hände habe ich nicht."
"Wenn Sie es antäuschen, wird er wohl trotzdem schießen", sagte Liam.
"Mit Sicherheit, ja."
"Was bis dahin?", fragte Ava, "Beckett sollte uns nicht finden, außerdem ist es noch eine ganze Weile hin."
"Ich muss ein paar Sachen vorbereiten, damit die Kameras uns maskieren, aber Beckett und Ha'gel nicht", sagte Augur, "Bei mir zuhause. Ihr könnt meinetwegen spazieren gehen. Lasst euch halt nicht sehen."
Ron und Ava gingen, sobald die Sonne aufgegangen war, tatsächlich spazieren, und zwar in einer Gegend, die vom polizeilichen Suchraster nach Ha'gel weit entfernt war. Sie schlenderten durch einen kargen, blattlosen Park mit vereinzelten Flecken Schnee im Gras. Auf den Kieswegen war jeder Schnee schon lange weggetaut, Gras isolierte einfach besser.
Ava hatte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und eine weinrote Wollmütze tief ins Gesicht und über die Ohren gezogen. "Sind die Winter hier oft so kalt?", fragte sie, "In unserem Jahr ist es ja zumindest etwas weniger kalt."
"Das war ein vergleichsweise kalter Winter, das ist eher selten so. Unser Jahr ist eher typisch." Ron ballte die Fäuste in den doch recht steifen Lederhandschuhen. Er hatte sich aus gutem Grund vorsorglich mit der Kleidung eingedeckt, die er nun trug: Sie sah genau so aus wie die, die er an diesem Tag ohnehin getragen hatte. Sähe ihn jemand, würde dieser sich nicht über einen unerklärlichen Variantenreichtum wundern.
"Im Vergleich zu dem, was ich an Wintern gewöhnt bin, ist das so oder so klirrend kalt", sagte Ava, "Ich glaube, Handschuhe und Mütze hatte ich, bevor ich dich getroffen habe, noch nie nötig." Sie musterte ihn. "Als du von den Philippinen hergekommen bist, hast du da auch so gefroren?"
Ron musste grinsen. "Zunächst nicht. Mit Dee-Dee wohnte ich in Florida, erst, als ich mich von Da'an anwerben ließ, zog ich in den kalten Norden. Mit CVI war Frieren dann aber keine Option mehr."
Jetzt war sie verdutzt. "Du frierst gar nicht?"
"Doch, aber ich komme viel leichter klar, weil das CVI die körperlichen Reaktionen unterdrücken kann, wenn ich das will."
"Hm", machte sie, "Aber trotzdem hast du jetzt Handschuhe an."
"Nicht des Tragekomforts wegen. Sie waren teuer!" Er schmunzelte. "Und sie sind der zweite Satz teure Handschuhe. Den ersten habe ich an Ha'gel verloren."
Ava steuerte jetzt eine Sitzbank an und Ron wusste jetzt schon, dass sie dort nicht länger als ein paar Sekunden sitzen bleiben würde. "Hast du sie damals gleich neu gekauft oder jetzt vor dieser Zeitreise?"
"Damals. Ich habe die komplette Ausstattung gleich nachgekauft."
Sie setzte sich, blieb aber steif und angespannt. "Wieso sind eure Holzparkbänke so kalt? Holz isoliert doch!"
Ron, der sich gar nicht erst hingesetzt hatte, sagte beiläufig: "Feuchtes Holz nicht."
"Ah, ja ..." Sie seufzte ausgiebig und stand wieder auf. "Ich mag den Winter hier nicht. Und weil wir uns nicht sehen lassen dürfen, können wir uns nicht mal den Bauch vollschlagen. Weihnachtsmarkt ist eh auch schon vorbei."
"Der Winter geht auch wieder vorbei."
"Schon, aber auch nur, wenn man keine Zeitschleife im Winter macht. Hat alles Vor- und Nachteile." Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und den Mantel enger. "Wo ist Dee-Dee jetzt?"
"Weiß ich nicht. Sie hat einen Flug irgendwohin und eine neue Identität vom Widerstand genommen und ist nie zurückgekommen."
"Willst du es rausfinden? Wäre mit einer Zeitreise ja möglich."
Er seufzte ausgiebig. "Vermutlich ist es besser, wenn ich es nicht weiß. Die Ehe hatte schon ohne CVI genug Probleme, schon allein, dass bei der Hochzeit die Green Card ein Argument war, sagt einiges. Früher oder später wäre es bestimmt auch ohne die Ankunft der Taelons zur Scheidung gekommen."
"Das ist kein Verbrechen", sagte Ava, "Es hat eben einfach nicht gepasst. Dee-Dee hatte nur das Pech, dass vor der Scheidung die Taelons gekommen sind."
Ron nickte langsam. "Pech", wiederholte er, "Ja, die Taelons waren für sehr viele Leute Pech."
"Haben eigentlich Lindsay oder Arias Familien, die Pech hatten?", fragte sie nachdenklich, "Oder andere Implantanten?"
"Boone, aber daran bin ich schuld."
"Das meine ich nicht. Gibt es eine Mrs. Lindsay?"
Ron blieb stehen, vor seinem inneren Auge ging er die Personalakten durch. "Theodora Marie Lindsay, Biochemikerin in einem Taelon-Forschungslabor. Arias hingegen ist seit kurz nach seiner Implantation geschieden."
"Die Glückliche ...", murmelte Ava.
Ron starrte in die Ferne und runzelte die Stirn. War das etwa Lili? Die Joggerin trug eine Jacke, die genauso aussah, wie jene, die Lili an diesem Tag getragen hatte, und die kinnlangen, dunklen Haare passten auch. Dass Schuhe und Hose, offensichtlich Sportbekleidung, Rons Erinnerung nicht entsprachen, war zudem leicht nachvollziehbar.
Die Joggerin blieb stehen und zückte ihr Global. Nach einem sehr kurzen Gespräch drehte sie sich um und setzte an, in die andere Richtung zu laufen, doch dann steuerte sie direkt auf Ron und Ava zu.
Soviel dazu, sich nicht sehen zu lassen.
Auch Ava erkannte Lili jetzt. "Verdammt", murmelte sie, "dieser Durchgang ist kontaminiert."
Nach einigen Augenblicken erreichte Lili die beiden und blieb stehen. "Agent Sandoval, Da'an hat mich informiert, dass Sie nicht erreichbar sind. Er wollte Sie in die Botschaft bitten."
Nicht erreichbar? Ron machte vermutlich ein recht verdutztes Gesicht, das er sogleich mit Unterstützung seines CVI in die Implantantenmaske zwängte. Er zog schnell sein Global hervor und ließ es aufspringen, ein Blick auf die Netzkennung klärte, dass er in Augurs kleinem Zeitreisenden-Netz war und keinesfalls sein in dieser Zeit heimisches Global aus dem Netz verdrängte.
"Ich werde den technischen Dienst mit einer Überprüfung beauftragen", sagte er dann, "nachdem ich bei Da'an war."
"Natürlich", sagte Lili, nickte ihm knapp zu, kurz schweifte ihr Blick noch über Ava, dann joggte sie von dannen.
Ron wies in die andere Richtung den Weg entlang und setzte sich im Laufschritt in Bewegung, Ava schloss sogleich zu ihm auf. Sie erreichten bald einen fast leeren Parkplatz mit öffentlicher Toilette, die ihnen für die hier anwesenden Personen als Rechtfertigung für die Eile diente: Ava ging hinein und kam kurz später wieder heraus.
"Du warst damals erreichbar, oder?", fragte sie dann.
"Ja. Und Da'an rief mich in die Botschaft, um Boone und mich mit der Jagd auf Ha'gel zu beauftragen. Was ist der Unterschied? Wie haben wir uns eingemischt? Das muss schon vor dem Treffen mit Lili gewesen sein!"
"Was tun wir?"
Er überlegte kurz. "Entweder gar nichts, oder ich übernehme, was mein vergangenes Ich gerade versäumt. Meinen Text weiß ich noch und ich glaube nicht, dass es durch die Verzögerung zu sehr deutlichen Abweichungen kommt."
"Ich würde die zweite Variante einfach mal ausprobieren", schlug Ava vor, "Ich sage Augur und Liam Bescheid. Wie kommst du schnell zur Botschaft?"
Er nahm kurzerhand ein Taxi.
Ron betrat Da'ans Räumlichkeiten der Botschaft und grüßte höflich: "Sinaui Euhura, Da'an, Zo'or, bitte entschuldigen Sie meine Verspätung."
Zo'or machte bereits den Eindruck, seinem niederen Sklaven das taelonische Äquivalent eines Fußtritts geben zu wollen, Da'an wirkte verständnisvoller und ging auch gleich zum Tagesthema über.
Offenbar war auch Boone noch nicht lange da, denn Da'an übergab das Wort an ihn. "Ich bin nicht in der Lage, diesen Taelontext zu übersetzen", sagte Boone.
"Was er besagt, ist für Sie nicht von Belang!", fuhr sofort Zo'or mit schneidender Stimme dazwischen.
Boone widersprach: "Ich habe einen Verdächtigen, umhüllt von einem Alienkokon. Der Text ist von Belang!"
Da'an ergriff das Wort: "Der Text stammt aus den frühsten Zeiten unserer Geschichtsschreibung." Zo'ors bisher eisige Mimik entgleiste. "Er bedeutet ..."
Boone erhielt die Übersetzung nicht, der Taelon fuhr wieder dazwischen und spazierte mit überheblichem Blick einige Schritte. "Die Kapsel ist ein Gefängnis, bestimmt für einen Taelonverbrecher namens Ha'gel. Er wurde vor Millionen von Jahren damit in die Leere des Weltalls verbannt."
"Und rein zufällig landet er auf unserem Planeten."
"Unglücklicherweise, ja."
Jetzt war Ron an der Reihe für seinen Text. Er fragte: "Ist er eine Gefahr für die Taelons?"
"Eine extreme Gefahr, was bedeutet, dass er zur Strecke gebracht und eliminiert werden muss!"
Damals hatte Ron sie nicht herausgehört, aber diesmal hörte er Zo'ors Angst. "Wie sollen wir ihn aufspüren?", wiederholte er, woran er sich erinnerte.
Jetzt gab Da'an die einzige nützliche Information des gesamten Gespräches: "Ermitteln Sie die Identität des Menschen im Kokon, denn das ist die Identität, die Ha'gel jetzt angenommen hat."
"Soll das heißen, dass Ha'gel nach Belieben jede Gestalt annehmen kann?", war Boone entsetzt.
"Wie Ihr Chamäleon", bewies Da'an Unkenntnis irdischer Biologie, und hörbar besorgt fuhr er fort: "aber in Ha'gels Fall nimmt er nicht nur die körperlichen Merkmale seines Opfers an, sondern auch sein vollständiges Wissen."
"Wie kann ein Taelon einen Mord begehen?", fragte Boone jetzt, als könne er sich das nicht vorstellen. Vielleicht konnte er sich ja auch tatsächlich nicht vorstellen, dass ein Taelon eigenhändig einen Mord beging. Nach seiner, und auch Rons, Erfahrung taten das die Handlanger für die Taelons.
Zo'or erklärte nur knapp und gewohnt überheblich: "Ha'gel ist so wenig Taelon, wie ein Neandertaler ein Mensch ist."
Als hätten Neandertaler mehr Verbrechen begangen als der anatomisch moderne Mensch! Taelons und irdische Biologie passten offenbar einfach nicht zusammen.
"Ziehen sie die Polizei und alle benötigten weiteren Truppen heran, um Ihre Mission zu erfüllen", befahl der Taelon, "Ihre Skrills sind die einzigen wirksamen Waffen."
"Wozu denn die Polizei?", gab Boone entrüstet zurück, "Wenn unsere Skrills die einzigen wirksamen Waffen sind, nützt die Polizei gar nichts!"
"Doch, wenn sie Sie zu ihm führt!", sagte Zo'or kalt, dann ergänzte er noch: "Beauftragen Sie auch Lieutenant Beckett, Sie zu unterstützen. Sie benötigen Ihren zusätzlichen Skrill, um Ha'gel aufzuhalten."
Der Taelon musste wirklich große Angst vor Ha'gel haben, wenn er dessen Stärke so sehr übertrieb. Ein Skrill hatte ja genügt.
Aber Ron durfte nicht zu lange nachdenken, es war wieder Zeit für seinen Text, den er mit einem Ausdruck von Verblüffung und leisem Schrecken im Gesicht garnierte. "Beckett? Ich dachte, sie wäre mit dem britischen Companion nach Irland zurückgekehrt."
"Nein", sagte Zo'or, süffisant grinsend, wie Ron es in Erinnerung hatte, "Sie ist hiergeblieben, sie ermittelt wegen eines Sicherheitsproblems." Er schien Rons erinnerungsgetreu wiederholte Mimik geradezu auszukosten, dann machte er eine energische Handbewegung und befahl: "Gehen Sie!", was er mit einem durchdringenden Blick in Boones Richtung auch auf diesen ausdehnte.
Da'an nickte sanft zur Bestätigung dieser Anweisung, also machten sich die beiden Implantanten davon.
Ron hatte nun das Problem, dass er als nächstes mit Siobhán Beckett sprechen musste, was ihm diesmal nicht leichter fallen würde als damals. Er sparte es sich, im Aufenthaltsregister nachzusehen, in welchem Hotel sie wohnte, er wusste es ja noch. Außerdem sparte er so Zeit.
Wie damals ging er auch diesmal einfach zu Fuß, es war ganz in der Nähe.
Ron trat die Eingangsstufen hoch, durchquerte das Foyer und stieg die mit grünem Teppich mit Lilienmuster belegten Treppen zwei Stockwerke hoch, dann atmete er vor einer Zimmertüre tief durch, bevor er kräftig klopfte.
Keine Antwort.
Er klopfte wieder, erneut keine Antwort. Kurz zog er sein Global hervor und überprüfte die Uhrzeit: Es war nur vier Minuten später als in seiner Erinnerung.
Ein weiteres Mal klopfte er, lauter.
Immer noch keine Antwort.
Ron wandte sich um, eilte die Treppen hinunter und zur Rezeption. "Ich suche Lieutenant Beckett", sagte er grußlos, aber nicht ganz unfreundlich.
Der Rezeptionist sah ihn verdutzt an. "Sie haben sie doch vor einer Stunde abgeholt! Sie ist jedenfalls noch nicht wieder zurück gekommen."
"Danke", murmelte Ron verwirrt. Was war da los? Woher kam diese deutliche Abweichung?
Er marschierte hinaus auf die Straße und suchte sich eine kleine Nebenstraße, in der er dann sein Global zückte und Liam anrief.
"Ja?", meldete sich der Kimera.
"Der Ablauf weicht deutlich ab", sagte Ron, "Ist von Ihrer Seite eine Ursache zu erkennen?"
"Nein. Aber ich beobachte gerade auch eine Abweichung: Sie und Beckett stromern in der Nähe der Kirche herum."
"Merkwürdig. Soll ich zu Ihnen kommen? Wo sind Sie?" Liam schwenkte kurz sein Global, dass Ron die Umgebung sehen und erkennen konnte. "Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen."
Ava war froh um die Sonne, die inzwischen den Tageshöchststand fast erreicht hatte. Die Kälte hatte etwas nachgelassen, es war auch nicht mehr so feucht überall. Ava kniete auf den Steinfliesen hinter einer Mauer, hatte den Kopf und eine Hand mit Fernrohr darüber gereckt und hielt sich einen immergrünen Zweig behelfsmäßig vor das Gesicht.
Sie hoffte, dass sie nicht entdeckt würde, aber ausgeschlossen war es nicht. Sie beobachtete immerhin zwei Implantanten, denen normalerweise nur sehr wenig entging, und viel anderes gab es hier nicht zu sehen. Der kleine gepflasterte Platz inmitten von Häusern hatte nur vier kahle Bäume in viereckigen Flecken Erde und einen Altpapiercontainer.
Links von ihr krabbelte Liam in Deckung der Mauer herbei. "Ronald kommt her. Ohne Beckett im Hotel hat er gerade nichts zu tun. Wie sieht es da drüben aus?"
"Ich würde sagen, sie sind sich gerade nicht einig", sagte Ava, "Beckett hatte vorhin einmal ihr Global in der Hand, aber Ron hat sie, überzeugt, es wieder wegzustecken. Zielstrebig wirkt das alles aber nicht."
"Hm", machte Liam, "Ich habe den Eindruck, sie suchen etwas ... oder jemanden. Vielleicht spürt Ha'gel mich doch irgendwie, obwohl ich ihn in diesem Durchgang nicht rufe, und ist bereits aufgefallen."
"Das heißt, er müsste in der Nähe sein. Können Sie das spüren?"
Er setzte sich bequemer auf den Steinfliesen hin. "Nein. Ich habe Si'ji damals auch nicht gespürt." Er wippte mit seinem linken Knie. "Vielleicht war ich gerade beim Rücksprung noch zu spüren und jetzt nicht mehr", überlegte er, "Dann sucht Ha'gel jetzt hier nach einem schwer verletzten Kimera. Im letzten Durchgang war ich das ja."
"Könnte sein", sagte Ava. Die beiden Implantanten schienen sich inzwischen wieder einig zu sein und gingen in die Gasse neben dem Altpapiercontainer. "Sie sind jetzt außer Sicht." Ava stand auf. "Ich folge ihnen. Warten Sie hier auf Ron?"
"Soll nicht ich ...?"
"Liam, gönnen Sie mir doch, Beckett zu beobachten", sagte Ava, "Sie kennen sie jedenfalls besser als ich."
Da konnte er nicht widersprechen, also eilte sie den Implantanten hinterher.
In der Gasse waren sie schon nicht mehr zu sehen, aber, da rechts ein Gittertor war, konnten sie nur links gegangen sein. Ava ging an die Hausecke und spähte vorsichtig in die nächste Gasse. Nichts. Oben an den Feuerleitern? Nichts.
Ava steckte das Fernglas in ihre Manteltasche und spazierte los, als gehöre sie hierher. Geradeaus war wieder eine richtige Straße, die die Implantanten aber bereits abgelaufen waren. Ava nahm daher die Gasse rechts.
Die meisten Hintergassen sahen sich so ähnlich, dass Ava sich darin verlaufen könnte wie Hänsel und Gretel im Wald, entsprechend war sie nun doch etwas verdutzt, hier ein von einer grünen Kunststoffplane bedecktes Zeitportal vorzufinden.
Und zwei Implantanten.
Ava setzte an, einfach höflich zu nicken und vorbeizuspazieren, da hatte sie Rons Skrill vor der Nase und reckte eilig die Hände in die Höhe.
"Sie war dort!", zischte er.
Siobhán Beckett zerrte energisch die Plane vom Portal. "Das ist ein Taelon-Artefakt!" Sie strich mit den Fingern über die glatte Fläche in der Einbuchtung. "Wir sollten Zo'or informieren."
"Einverstanden", sagte Ron, dann schoss er.
"Was ist passiert?", fragte Liam, "Ich wurde angeschossen ... und war im Krankenbett?"
Ron nickte. "Ja. Boone war sogar recht geknickt über Ha'gels Tod, er wollte ihn auch nur anschießen." Er richtete sich auf und atmete tief durch. "Sie wollten an mich ran", sagte er dann, "Dr. Belman hat mein CVI untersucht. Ich habe den Test nicht bestanden."
Liam klappte den Mund auf. "Was?"
"Der Imperativ ist da, meinte sie."
"Blödsinn", konstatierte er, "Da wäre dann doch wohl einiges anders gelaufen."
"Was, wenn sie recht hat, Liam?", fragte Ron besorgt, "Was, wenn der Imperativ nur schläft und abwartet, bis es sich lohnt?"
"Es hätte sich gelohnt, als ich tot war und Sie mit Zo'or vor dem Zeitportal standen!", sagte Liam fest, "Oder widersprechen Sie mir da?"
"Kommt darauf an, wem der Imperativ folgt. Für die Taelons allgemein war die Situation wenig ideal, für Da'an eine Katastrophe. Immerhin folgt der Imperativ also nicht Zo'or, aber das ist keine Garantie, dass ich ungefährlich bin."
Liam seufzte leise. "Meinetwegen ..." Er legte seine Hand in die Einbuchtung und berührte dann die erscheinende glattweiß strahlende Fläche. Liam verschwand, dann verschwand auch das Portal. Zehn Meter entfernt erschien dann erst das Portal wieder, dann auch Liam, der sich sogleich auf den Weg zurück zur Gruppe machte. "So. Damit habe ich am Anfang der inneren Schleife notfalls allein die Kontrolle. Ist Ihnen das so recht?"
Ron nickte. "Ich hoffe, das genügt."
"Wahrscheinlich hat sie eh nicht recht", kam unerwarteterweise von Augur, "Ein CVI, das von Anfang an keinen Imperativ hat, sieht sicher sehr anders aus als eines, in dem der Imperativ kaputt ist."
Als Ron Ava ansah, hob sie entschuldigend die Hände. "Ich kenne mich damit nicht aus. Ich weiß nur, dass du sehr anders bist als Lindsay oder Arias."
"Hm", machte er, "Was hast du noch erlebt?"
"Ich bin nur blöd auf einem Feldbett rumgesessen, nichts weiter."
"Augur?"
"Mich hat Dr. Belman auch untersucht", tat der Hacker kund, "und ich habe bestanden. Das hat alle verwundert, weil sie in meinem Kopf auch ein CVI erwartet haben." Er grinste breit. "Und deswegen hat mir Augur das Kennwort verraten: Vienna Red Socks Nirvana Blueberry Diamond Paramilitary Band."
"Das ist ein Kennwort?", fragte Liam verdutzt.
"Je länger, desto besser, und Wörter merkt man sich besser." Augur klatschte mit den Händen. "So, was machen wir jetzt?"
Ron sah zu Liam. "Planen und ausprobieren. Die erste Frage ist, wie wir ungesehen in die Kirche kommen."
"Wir machen das jetzt also", stellte Ava fest, "Wir retten Ha'gel und Boone."
Liam nickte. "Wenn es irgendwie geht, ja." Er kratzte sich am Kopf. "Augur, unter der Annahme, dass du die Zertifikate hast, was machst du dann?"
"Dann kann ich mit meinem Global zwischen die Kameras und den Überwachungsserver und Bilder von kurz zuvor einspielen. Oder sogar Videobearbeitung im Live-Feed, wenn wir nicht zu sehen sein sollen, aber sich etwas anderes im Aufnahmebereich auch noch bewegt. Ist auch machbar."
"Aufwändig?"
"Nein, sobald ich die Zertifikate habe, ist das Kleinkram."
Ron überlegte kurz. "Müssen Sie für die Zertifikate unter die Kirche oder haben Sie die auch noch woanders?"
Jetzt grinste Augur. "Natürlich auch woanders. Liam, wenn du uns mit dem Portal direkt reinbringen kannst, dann kann ich den Alarm abdrehen, bevor er rausgesendet wird. Ich bin ja schließlich ich, nicht wahr?"
Liam rollte kurz mit den Augen und wies auf das zehn Meter entfernte Portal. "Also gut." Er eilte wieder dorthin und legte seine Hand in die Einbuchtung, dann erschien die weiße Fläche im Portal. Augur, Ava und Ron traten hindurch und fanden sich in einem Raum mit einer riesigen Computeranlage wieder.
In einer Hologrammsäule schimmerte durchscheinend ein Hologramm von Lili in aufreizender, schwarzer Spitzenunterwäsche, inklusive Strapse, und es zählte gemächlich von zehn abwärts.
"Lili, Lili, ich bin es!", Augur stürzte auf sie zu und stellte sich möglichst zwischen sie und seine Begleiter, "Hologramm deaktivieren!"
"Ooooch", machte das Hologramm und zog eine Schnute, dann verschwand es.
"Hat Lili das mal rausgefunden?", fragte Ava breit grinsend.
Augur zog die Brauen zusammen. "Ja. Sie hat sie mir emanzipiert und angezogen, inklusive einer absolut unmöglichen Perlenkette."
"Na dann ..."
Er ließ seine Finger fliegen, es war nur das Klacken der Tastatur zu hören, bis er wenig später sein Global öffnete und zufrieden grinste. "So, da hätten wir die Zertifikate. Wir können wieder gehen." Er schlenderte zum Portal und blieb davor stehen. "Sag mal, Liam, kann das Portal nicht eigentlich die Zertifikate speichern? Das Global vergisst sie ja, aber was im Portalspeicher ist, bleibt doch."
"Der Portalspeicher besteht nur aus dem Befehlsspeicher und dem Reisespeicher", erklärte Liam, "Speicher, der dem Benutzer zur Verfügung steht, gibt es nicht."
"Hm. Ich könnte die Zertifikate in Dummy-Befehlsblöcke packen, aber da wäre ich ein paar Stunden dran. Naja, es ging ja eh ganz einfach, sie zu holen, dann machen wir das im nächsten Durchgang eben wieder." Mit diesen Worten stieg Augur durch die noch immer schimmernde Fläche im Zeitportal.
"Nach euch!", sagte Liam, also stiegen auch Ava und Ron durch das Portal, zurück in die vermüllte, enge Gasse. Liam trat sogleich nach ihnen heraus. "Augur, wie nahe musst du an die Kirche ran, damit du den Zugriff auf das Überwachungssystem hast?"
"Vor das Tor, dann komme ich über das W-LAN der Sakristei rein."
"Das was?"
"Ja, noch gibt es das ja. In der Schießerei hat Ha'gel oder Boone dann den Router zerlegt und der Pastor hat ihn nicht ersetzt, wegen der schlimmen, schlimmen Strahlenbelastung. Ehrlich, in der Ruine hätte ich mir an seiner Stelle mehr Sorgen um Feinstaub gemacht ..." Augur zuckte mit den Schultern. "Aber des Pastors Verschwörungstheorie ist sein Himmelreich, oder so."
Ron straffte sich. "Was tun wir dort? Liam, haben Sie schon einen Plan?"
Der Kimera schüttelte den Kopf. "Ich erinnere mich an die Schießerei ja nicht, von daher würde ich in diesem Durchgang eher einfach beobachten. Oder haben Sie einen besseren Vorschlag?" Er sah zu Augur. "Oder du?"
Der Hacker musterte Liam fast entrüstet. "Wir könnten auch einfach die Videos ansehen, die ich auf meinem Global habe!"
"Und wenn etwas einen neuen Blickwinkel braucht, wissen wir dann, wohin wir uns stellen müssen", warf Ava ein, "Gehen wir gleich hin oder sehen wir es hier an?"
"In der Kirche ist derzeit nichts los", sagte Augur, "Solange wir nicht bemerkt werden, und dafür sorge ich ja, wird uns niemand dazwischenfunken. Ob hier in der Gasse jemand käme, weiß ich nicht."
"Allemal sollten wir das Portal wieder abdecken. Helft mir mal", sagte Liam. Er entfaltete eine grobe, grüne Kunststoffplane, die er dann mit Hilfe seiner Begleiter über das Portal warf. "Also dann, gehen wir, es ist ja nicht weit", sagte er dann und eilte zielsicher voran.
Wenig später hatte die Gruppe Zeitreisende die engen Hintergassen hinter sich gelassen und folgte nun einer breiten Straße. In nicht zu weiter Entfernung war auch bereits die Kirche zu sehen, unter der sich der Widerstand eingenistet hatte. Die gotische Fassade war durch Scheinwerfer hell erleuchtet, die Straßenlaternen verblassten dagegen.
Vor einem kleineren Tor an der Seite blieb Augur stehen und zückte sein Global. "Da ist es", sagte er, "Der Pastor hat das W-LAN wenig kreativ einfach Jesus genannt." Er tippte konzentriert auf der winzigen Globaltastatur, dann ploppten sieben kleine Fensterchen mit Kamera-Feeds auf. "Ich erstelle jetzt für jede Kamera eine 360°-Abbildung der Umgebung, dann kann ich auch Kamerabewegungen abfangen", erklärte er murmelnd, "Für ein paar Sekunden übertrage ich Standbild, damit ich die Kameras bewegen kann, danach ist die Abbildung fertig und wird verwendet." Ein Eingabefeld sprang auf, wieder tippte er, dann wartete er kurz ab. "So. Fertig. Wir können rein."
Die vier betraten durch das kleine Tor das Kirchenschiff, diesmal spazierten sie die weißen Treppenstufen hoch und zum Altar und setzten sich dahinter auf den Boden. "Hier kommt normalerweise überhaupt keiner her, außer halt dem Pastor", sagte Augur, "und der kommt morgen gar nicht. Montags ist keine Messe."
Ron wies auf das Global. "Die Aufzeichnung."
"Ja, schon gut." Der Hacker schob die Kamerakontrollen beiseite und öffnete ein Multikamera-Video. "Wir können jederzeit zwischen den Kameras wechseln", erklärte er, "Die Kamerasprungmarken sind aber so, dass man immer den besten Überblick hat." Er startete, stoppte dann aber gleich wieder. "Leute, drängt euch nicht so hinter mir!", tat er mit einem Anflug von Ärger kund, "Wisst ihr was, ich streame auf eure Globals, so."
Ron wich etwas zurück und zückte sein Global, Ava und Liam taten es ihm gleich. Er akzeptierte den Stream, dann erschien das Überwachungsvideo auf seinem Global.
Zu Beginn des Videos war nur Siobhán Beckett in der Kirche und sie sah sich jede Ecke genau an. Sie sah auch hinter den Altar, die Gruppe würde für dann also ein besseres Versteck finden müssen. Nach nicht einmal zehn Minuten aber fand sie schon den DNA-Sensor.
Sie rief Ron an, oder vielmehr Ha'gel. Und dann wartete sie auf ihn, und er war schnell, bereits nach vier Minuten kam er in der Kirche an.
Ron runzelte die Stirn. "Das verwundert mich. Wie war er so schnell da? Der verdammte Müllcontainer ist weiter weg als vier Minuten und das Auto hat er nicht benutzt, das stand noch dort, als ich aufgewacht bin!"
"Taxi", sagte Liam, "Er hat sogar bezahlt."
"Die Vorstellung eines Aliens im Taxi ist recht merkwürdig", stellte Ron fest, "andererseits, Sie sind auch schon Taxi gefahren."
"Und ich habe auch immer bezahlt!"
Das wollte er wohl hoffen! Er wollte keinen Taxipreller als Sohn.
"Er macht ihr ganz ordentlich schöne Augen!", wechselte Ava das Thema, "Und sie ist offenbar überhaupt nicht abgeneigt."
"Nein, war sie nicht", sagte Ron knapp. Warum musste ausgerechnet Ava das ansprechen? Ihr gegenüber wollte er sein vergangenes Nicht-Liebesleben eigentlich nicht allzu sehr breittreten.
Kurz war es still. Auf den kleinen Bildschirmen löste sich Ha'gel in kleine wirbelnde Energiefetzen auf und hob Siobhán in die Höhe.
"Kannst du dich eigentlich auch so auflösen, Liam?", fragte Augur.
"Nie probiert", gab Liam zurück, "Könnte ich mal, aber nicht jetzt."
"Können Taelons das?", fragte jetzt Ava.
"Nein." Kurz war er still. "Naja, ja, aber normalerweise überleben sie es nicht, bei dem Energiemangel, den sie haben. Ist daher eher eine Möglichkeit, Selbstmord zu begehen, als sich fortzupflanzen."
Ava blinzelte. "Oh."
"Oh!", machte auch Augur, ihm war seine Frage sichtlich peinlich.
Auf den kleinen Bildschirmen legte Ha'gel Siobhán inzwischen wieder ab, und sofort wurde er von Boone in Deckung gezwungen. "Wir könnten da ebenfalls in Deckung liegen, dort zwischen den Bänken", überlegte Ron, "Boone sieht das nicht und Ha'gel ist abgelenkt." Er beobachtete die Schießerei, Ha'gel landete auch zwischen den Bänken. "Nur, wie kriegen wir ihn da raus? Nach hinten rausrobben?"
Ava sah zu ihm. "Er müsste liegenbleiben", schlug sie vor, "und ... der ältere Ha'gel steht statt ihm wieder auf." Sie sah wieder auf ihr Global. "Wann steht er auf? Er liegt da nur rum ..."
"Wir haben leider keinen Ton", sagte Augur, "aber Boone offenbart sich gerade als Widerstand, glaube ich."
"Wir müssten den älteren Ha'gel vorher rein kriegen", überlegte Ron, "aber Siobhán würde ihn doch finden!"
"Wir müssen auch den jüngeren raus kriegen, bevor die Polizei ihn findet", ergänzte Augur, "Da kommt sie."
Die Polizei, ja. Die Polizei stieß gerade das Haupttor auf und machte Boones Versuche zunichte. Ha'gel bedrohte die Polizisten, Boone schoss ihn dafür nieder, wurde aber auch selbst getroffen.
Boone war schwer verletzt, Ha'gel hingegen hinterließ ein grelles Aufblitzen und dann ein Loch in der Landschaft.
Ron beobachtete die Suche der Polizisten. "Es könnte klappen. Es sind doch ein paar Sekunden, die Ha'gel da schon steht, bevor die Polizei kommt. Da könnte man vielleicht ganz leise hinten wegrobben. Müsste man ausprobieren."
"Sollen wir?", fragte Liam, "In diesem Durchgang?"
Ron verzog in Anbetracht der ihm blühenden Schmerzen sein Gesicht. "Wir haben keinen älteren Ha'gel zur Verfügung. Das heißt, ich muss den Part übernehmen und mich von Boone erschießen lassen." Er straffte sich. "Also gut, das schaffe ich", sagte er, "nur leuchtende Hände habe ich nicht."
"Wenn Sie es antäuschen, wird er wohl trotzdem schießen", sagte Liam.
"Mit Sicherheit, ja."
"Was bis dahin?", fragte Ava, "Beckett sollte uns nicht finden, außerdem ist es noch eine ganze Weile hin."
"Ich muss ein paar Sachen vorbereiten, damit die Kameras uns maskieren, aber Beckett und Ha'gel nicht", sagte Augur, "Bei mir zuhause. Ihr könnt meinetwegen spazieren gehen. Lasst euch halt nicht sehen."
Ron und Ava gingen, sobald die Sonne aufgegangen war, tatsächlich spazieren, und zwar in einer Gegend, die vom polizeilichen Suchraster nach Ha'gel weit entfernt war. Sie schlenderten durch einen kargen, blattlosen Park mit vereinzelten Flecken Schnee im Gras. Auf den Kieswegen war jeder Schnee schon lange weggetaut, Gras isolierte einfach besser.
Ava hatte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und eine weinrote Wollmütze tief ins Gesicht und über die Ohren gezogen. "Sind die Winter hier oft so kalt?", fragte sie, "In unserem Jahr ist es ja zumindest etwas weniger kalt."
"Das war ein vergleichsweise kalter Winter, das ist eher selten so. Unser Jahr ist eher typisch." Ron ballte die Fäuste in den doch recht steifen Lederhandschuhen. Er hatte sich aus gutem Grund vorsorglich mit der Kleidung eingedeckt, die er nun trug: Sie sah genau so aus wie die, die er an diesem Tag ohnehin getragen hatte. Sähe ihn jemand, würde dieser sich nicht über einen unerklärlichen Variantenreichtum wundern.
"Im Vergleich zu dem, was ich an Wintern gewöhnt bin, ist das so oder so klirrend kalt", sagte Ava, "Ich glaube, Handschuhe und Mütze hatte ich, bevor ich dich getroffen habe, noch nie nötig." Sie musterte ihn. "Als du von den Philippinen hergekommen bist, hast du da auch so gefroren?"
Ron musste grinsen. "Zunächst nicht. Mit Dee-Dee wohnte ich in Florida, erst, als ich mich von Da'an anwerben ließ, zog ich in den kalten Norden. Mit CVI war Frieren dann aber keine Option mehr."
Jetzt war sie verdutzt. "Du frierst gar nicht?"
"Doch, aber ich komme viel leichter klar, weil das CVI die körperlichen Reaktionen unterdrücken kann, wenn ich das will."
"Hm", machte sie, "Aber trotzdem hast du jetzt Handschuhe an."
"Nicht des Tragekomforts wegen. Sie waren teuer!" Er schmunzelte. "Und sie sind der zweite Satz teure Handschuhe. Den ersten habe ich an Ha'gel verloren."
Ava steuerte jetzt eine Sitzbank an und Ron wusste jetzt schon, dass sie dort nicht länger als ein paar Sekunden sitzen bleiben würde. "Hast du sie damals gleich neu gekauft oder jetzt vor dieser Zeitreise?"
"Damals. Ich habe die komplette Ausstattung gleich nachgekauft."
Sie setzte sich, blieb aber steif und angespannt. "Wieso sind eure Holzparkbänke so kalt? Holz isoliert doch!"
Ron, der sich gar nicht erst hingesetzt hatte, sagte beiläufig: "Feuchtes Holz nicht."
"Ah, ja ..." Sie seufzte ausgiebig und stand wieder auf. "Ich mag den Winter hier nicht. Und weil wir uns nicht sehen lassen dürfen, können wir uns nicht mal den Bauch vollschlagen. Weihnachtsmarkt ist eh auch schon vorbei."
"Der Winter geht auch wieder vorbei."
"Schon, aber auch nur, wenn man keine Zeitschleife im Winter macht. Hat alles Vor- und Nachteile." Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und den Mantel enger. "Wo ist Dee-Dee jetzt?"
"Weiß ich nicht. Sie hat einen Flug irgendwohin und eine neue Identität vom Widerstand genommen und ist nie zurückgekommen."
"Willst du es rausfinden? Wäre mit einer Zeitreise ja möglich."
Er seufzte ausgiebig. "Vermutlich ist es besser, wenn ich es nicht weiß. Die Ehe hatte schon ohne CVI genug Probleme, schon allein, dass bei der Hochzeit die Green Card ein Argument war, sagt einiges. Früher oder später wäre es bestimmt auch ohne die Ankunft der Taelons zur Scheidung gekommen."
"Das ist kein Verbrechen", sagte Ava, "Es hat eben einfach nicht gepasst. Dee-Dee hatte nur das Pech, dass vor der Scheidung die Taelons gekommen sind."
Ron nickte langsam. "Pech", wiederholte er, "Ja, die Taelons waren für sehr viele Leute Pech."
"Haben eigentlich Lindsay oder Arias Familien, die Pech hatten?", fragte sie nachdenklich, "Oder andere Implantanten?"
"Boone, aber daran bin ich schuld."
"Das meine ich nicht. Gibt es eine Mrs. Lindsay?"
Ron blieb stehen, vor seinem inneren Auge ging er die Personalakten durch. "Theodora Marie Lindsay, Biochemikerin in einem Taelon-Forschungslabor. Arias hingegen ist seit kurz nach seiner Implantation geschieden."
"Die Glückliche ...", murmelte Ava.
Ron starrte in die Ferne und runzelte die Stirn. War das etwa Lili? Die Joggerin trug eine Jacke, die genauso aussah, wie jene, die Lili an diesem Tag getragen hatte, und die kinnlangen, dunklen Haare passten auch. Dass Schuhe und Hose, offensichtlich Sportbekleidung, Rons Erinnerung nicht entsprachen, war zudem leicht nachvollziehbar.
Die Joggerin blieb stehen und zückte ihr Global. Nach einem sehr kurzen Gespräch drehte sie sich um und setzte an, in die andere Richtung zu laufen, doch dann steuerte sie direkt auf Ron und Ava zu.
Soviel dazu, sich nicht sehen zu lassen.
Auch Ava erkannte Lili jetzt. "Verdammt", murmelte sie, "dieser Durchgang ist kontaminiert."
Nach einigen Augenblicken erreichte Lili die beiden und blieb stehen. "Agent Sandoval, Da'an hat mich informiert, dass Sie nicht erreichbar sind. Er wollte Sie in die Botschaft bitten."
Nicht erreichbar? Ron machte vermutlich ein recht verdutztes Gesicht, das er sogleich mit Unterstützung seines CVI in die Implantantenmaske zwängte. Er zog schnell sein Global hervor und ließ es aufspringen, ein Blick auf die Netzkennung klärte, dass er in Augurs kleinem Zeitreisenden-Netz war und keinesfalls sein in dieser Zeit heimisches Global aus dem Netz verdrängte.
"Ich werde den technischen Dienst mit einer Überprüfung beauftragen", sagte er dann, "nachdem ich bei Da'an war."
"Natürlich", sagte Lili, nickte ihm knapp zu, kurz schweifte ihr Blick noch über Ava, dann joggte sie von dannen.
Ron wies in die andere Richtung den Weg entlang und setzte sich im Laufschritt in Bewegung, Ava schloss sogleich zu ihm auf. Sie erreichten bald einen fast leeren Parkplatz mit öffentlicher Toilette, die ihnen für die hier anwesenden Personen als Rechtfertigung für die Eile diente: Ava ging hinein und kam kurz später wieder heraus.
"Du warst damals erreichbar, oder?", fragte sie dann.
"Ja. Und Da'an rief mich in die Botschaft, um Boone und mich mit der Jagd auf Ha'gel zu beauftragen. Was ist der Unterschied? Wie haben wir uns eingemischt? Das muss schon vor dem Treffen mit Lili gewesen sein!"
"Was tun wir?"
Er überlegte kurz. "Entweder gar nichts, oder ich übernehme, was mein vergangenes Ich gerade versäumt. Meinen Text weiß ich noch und ich glaube nicht, dass es durch die Verzögerung zu sehr deutlichen Abweichungen kommt."
"Ich würde die zweite Variante einfach mal ausprobieren", schlug Ava vor, "Ich sage Augur und Liam Bescheid. Wie kommst du schnell zur Botschaft?"
Er nahm kurzerhand ein Taxi.
Ron betrat Da'ans Räumlichkeiten der Botschaft und grüßte höflich: "Sinaui Euhura, Da'an, Zo'or, bitte entschuldigen Sie meine Verspätung."
Zo'or machte bereits den Eindruck, seinem niederen Sklaven das taelonische Äquivalent eines Fußtritts geben zu wollen, Da'an wirkte verständnisvoller und ging auch gleich zum Tagesthema über.
Offenbar war auch Boone noch nicht lange da, denn Da'an übergab das Wort an ihn. "Ich bin nicht in der Lage, diesen Taelontext zu übersetzen", sagte Boone.
"Was er besagt, ist für Sie nicht von Belang!", fuhr sofort Zo'or mit schneidender Stimme dazwischen.
Boone widersprach: "Ich habe einen Verdächtigen, umhüllt von einem Alienkokon. Der Text ist von Belang!"
Da'an ergriff das Wort: "Der Text stammt aus den frühsten Zeiten unserer Geschichtsschreibung." Zo'ors bisher eisige Mimik entgleiste. "Er bedeutet ..."
Boone erhielt die Übersetzung nicht, der Taelon fuhr wieder dazwischen und spazierte mit überheblichem Blick einige Schritte. "Die Kapsel ist ein Gefängnis, bestimmt für einen Taelonverbrecher namens Ha'gel. Er wurde vor Millionen von Jahren damit in die Leere des Weltalls verbannt."
"Und rein zufällig landet er auf unserem Planeten."
"Unglücklicherweise, ja."
Jetzt war Ron an der Reihe für seinen Text. Er fragte: "Ist er eine Gefahr für die Taelons?"
"Eine extreme Gefahr, was bedeutet, dass er zur Strecke gebracht und eliminiert werden muss!"
Damals hatte Ron sie nicht herausgehört, aber diesmal hörte er Zo'ors Angst. "Wie sollen wir ihn aufspüren?", wiederholte er, woran er sich erinnerte.
Jetzt gab Da'an die einzige nützliche Information des gesamten Gespräches: "Ermitteln Sie die Identität des Menschen im Kokon, denn das ist die Identität, die Ha'gel jetzt angenommen hat."
"Soll das heißen, dass Ha'gel nach Belieben jede Gestalt annehmen kann?", war Boone entsetzt.
"Wie Ihr Chamäleon", bewies Da'an Unkenntnis irdischer Biologie, und hörbar besorgt fuhr er fort: "aber in Ha'gels Fall nimmt er nicht nur die körperlichen Merkmale seines Opfers an, sondern auch sein vollständiges Wissen."
"Wie kann ein Taelon einen Mord begehen?", fragte Boone jetzt, als könne er sich das nicht vorstellen. Vielleicht konnte er sich ja auch tatsächlich nicht vorstellen, dass ein Taelon eigenhändig einen Mord beging. Nach seiner, und auch Rons, Erfahrung taten das die Handlanger für die Taelons.
Zo'or erklärte nur knapp und gewohnt überheblich: "Ha'gel ist so wenig Taelon, wie ein Neandertaler ein Mensch ist."
Als hätten Neandertaler mehr Verbrechen begangen als der anatomisch moderne Mensch! Taelons und irdische Biologie passten offenbar einfach nicht zusammen.
"Ziehen sie die Polizei und alle benötigten weiteren Truppen heran, um Ihre Mission zu erfüllen", befahl der Taelon, "Ihre Skrills sind die einzigen wirksamen Waffen."
"Wozu denn die Polizei?", gab Boone entrüstet zurück, "Wenn unsere Skrills die einzigen wirksamen Waffen sind, nützt die Polizei gar nichts!"
"Doch, wenn sie Sie zu ihm führt!", sagte Zo'or kalt, dann ergänzte er noch: "Beauftragen Sie auch Lieutenant Beckett, Sie zu unterstützen. Sie benötigen Ihren zusätzlichen Skrill, um Ha'gel aufzuhalten."
Der Taelon musste wirklich große Angst vor Ha'gel haben, wenn er dessen Stärke so sehr übertrieb. Ein Skrill hatte ja genügt.
Aber Ron durfte nicht zu lange nachdenken, es war wieder Zeit für seinen Text, den er mit einem Ausdruck von Verblüffung und leisem Schrecken im Gesicht garnierte. "Beckett? Ich dachte, sie wäre mit dem britischen Companion nach Irland zurückgekehrt."
"Nein", sagte Zo'or, süffisant grinsend, wie Ron es in Erinnerung hatte, "Sie ist hiergeblieben, sie ermittelt wegen eines Sicherheitsproblems." Er schien Rons erinnerungsgetreu wiederholte Mimik geradezu auszukosten, dann machte er eine energische Handbewegung und befahl: "Gehen Sie!", was er mit einem durchdringenden Blick in Boones Richtung auch auf diesen ausdehnte.
Da'an nickte sanft zur Bestätigung dieser Anweisung, also machten sich die beiden Implantanten davon.
Ron hatte nun das Problem, dass er als nächstes mit Siobhán Beckett sprechen musste, was ihm diesmal nicht leichter fallen würde als damals. Er sparte es sich, im Aufenthaltsregister nachzusehen, in welchem Hotel sie wohnte, er wusste es ja noch. Außerdem sparte er so Zeit.
Wie damals ging er auch diesmal einfach zu Fuß, es war ganz in der Nähe.
Ron trat die Eingangsstufen hoch, durchquerte das Foyer und stieg die mit grünem Teppich mit Lilienmuster belegten Treppen zwei Stockwerke hoch, dann atmete er vor einer Zimmertüre tief durch, bevor er kräftig klopfte.
Keine Antwort.
Er klopfte wieder, erneut keine Antwort. Kurz zog er sein Global hervor und überprüfte die Uhrzeit: Es war nur vier Minuten später als in seiner Erinnerung.
Ein weiteres Mal klopfte er, lauter.
Immer noch keine Antwort.
Ron wandte sich um, eilte die Treppen hinunter und zur Rezeption. "Ich suche Lieutenant Beckett", sagte er grußlos, aber nicht ganz unfreundlich.
Der Rezeptionist sah ihn verdutzt an. "Sie haben sie doch vor einer Stunde abgeholt! Sie ist jedenfalls noch nicht wieder zurück gekommen."
"Danke", murmelte Ron verwirrt. Was war da los? Woher kam diese deutliche Abweichung?
Er marschierte hinaus auf die Straße und suchte sich eine kleine Nebenstraße, in der er dann sein Global zückte und Liam anrief.
"Ja?", meldete sich der Kimera.
"Der Ablauf weicht deutlich ab", sagte Ron, "Ist von Ihrer Seite eine Ursache zu erkennen?"
"Nein. Aber ich beobachte gerade auch eine Abweichung: Sie und Beckett stromern in der Nähe der Kirche herum."
"Merkwürdig. Soll ich zu Ihnen kommen? Wo sind Sie?" Liam schwenkte kurz sein Global, dass Ron die Umgebung sehen und erkennen konnte. "Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen."
Ava war froh um die Sonne, die inzwischen den Tageshöchststand fast erreicht hatte. Die Kälte hatte etwas nachgelassen, es war auch nicht mehr so feucht überall. Ava kniete auf den Steinfliesen hinter einer Mauer, hatte den Kopf und eine Hand mit Fernrohr darüber gereckt und hielt sich einen immergrünen Zweig behelfsmäßig vor das Gesicht.
Sie hoffte, dass sie nicht entdeckt würde, aber ausgeschlossen war es nicht. Sie beobachtete immerhin zwei Implantanten, denen normalerweise nur sehr wenig entging, und viel anderes gab es hier nicht zu sehen. Der kleine gepflasterte Platz inmitten von Häusern hatte nur vier kahle Bäume in viereckigen Flecken Erde und einen Altpapiercontainer.
Links von ihr krabbelte Liam in Deckung der Mauer herbei. "Ronald kommt her. Ohne Beckett im Hotel hat er gerade nichts zu tun. Wie sieht es da drüben aus?"
"Ich würde sagen, sie sind sich gerade nicht einig", sagte Ava, "Beckett hatte vorhin einmal ihr Global in der Hand, aber Ron hat sie, überzeugt, es wieder wegzustecken. Zielstrebig wirkt das alles aber nicht."
"Hm", machte Liam, "Ich habe den Eindruck, sie suchen etwas ... oder jemanden. Vielleicht spürt Ha'gel mich doch irgendwie, obwohl ich ihn in diesem Durchgang nicht rufe, und ist bereits aufgefallen."
"Das heißt, er müsste in der Nähe sein. Können Sie das spüren?"
Er setzte sich bequemer auf den Steinfliesen hin. "Nein. Ich habe Si'ji damals auch nicht gespürt." Er wippte mit seinem linken Knie. "Vielleicht war ich gerade beim Rücksprung noch zu spüren und jetzt nicht mehr", überlegte er, "Dann sucht Ha'gel jetzt hier nach einem schwer verletzten Kimera. Im letzten Durchgang war ich das ja."
"Könnte sein", sagte Ava. Die beiden Implantanten schienen sich inzwischen wieder einig zu sein und gingen in die Gasse neben dem Altpapiercontainer. "Sie sind jetzt außer Sicht." Ava stand auf. "Ich folge ihnen. Warten Sie hier auf Ron?"
"Soll nicht ich ...?"
"Liam, gönnen Sie mir doch, Beckett zu beobachten", sagte Ava, "Sie kennen sie jedenfalls besser als ich."
Da konnte er nicht widersprechen, also eilte sie den Implantanten hinterher.
In der Gasse waren sie schon nicht mehr zu sehen, aber, da rechts ein Gittertor war, konnten sie nur links gegangen sein. Ava ging an die Hausecke und spähte vorsichtig in die nächste Gasse. Nichts. Oben an den Feuerleitern? Nichts.
Ava steckte das Fernglas in ihre Manteltasche und spazierte los, als gehöre sie hierher. Geradeaus war wieder eine richtige Straße, die die Implantanten aber bereits abgelaufen waren. Ava nahm daher die Gasse rechts.
Die meisten Hintergassen sahen sich so ähnlich, dass Ava sich darin verlaufen könnte wie Hänsel und Gretel im Wald, entsprechend war sie nun doch etwas verdutzt, hier ein von einer grünen Kunststoffplane bedecktes Zeitportal vorzufinden.
Und zwei Implantanten.
Ava setzte an, einfach höflich zu nicken und vorbeizuspazieren, da hatte sie Rons Skrill vor der Nase und reckte eilig die Hände in die Höhe.
"Sie war dort!", zischte er.
Siobhán Beckett zerrte energisch die Plane vom Portal. "Das ist ein Taelon-Artefakt!" Sie strich mit den Fingern über die glatte Fläche in der Einbuchtung. "Wir sollten Zo'or informieren."
"Einverstanden", sagte Ron, dann schoss er.
Don't diagnose and drive.