Das Morphem
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+ | Ferdinand de Saussure, einer der wichtigsten Forscher der Sprachwissenschaft, hat das Wort aus Sicht der Bedeutung betrachtet. Als sprachliches Zeichen hat jedes Wort eine Bedeutung, die hinter dem Wort steckt. Wir haben also das Wort (Bezeichnendes), das den eigentlichen Gegenstand (Bezeichnetes) zwar bezeichnet, aber selbst davon unabhängig ist. Es besteht aus Lauten, die miteinander kombiniert sind und nur in wenigen Fällen eine echte Beziehung zum Bezeichneten haben. | ||
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+ | Aber wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass man nicht nur das Wort als Ganzes betrachten kann, sondern es auch noch auseinander nehmen kann. ''Apfelsaft'' können wir in zwei Teile teilen, nämlich ''Apfel'' und ''Saft''. Beide Bestandteile haben ihre eigene Bedeutung. Auch "sagst" können wir aufteilen: ''sag-'' enthält die Kernbedeutung und ''-st'' enthält grammatische Informationen (in diesem Fall 2. Person Singular). Diese Wortteile, diese kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache, werden '''Morpheme''' genannt. | ||
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+ | Wie bei den Wörtern können wir also auch bei den Morphemen lexikalische und grammatische Bedeutungen ausmachen. Oft sind diese getrennt voneinander in verschiedenen Morphemen untergebracht, aber es ist auch keine Seltenheit, dass in einem Morphem sowohl lexikalische als auch grammatische Bedeutungen zu finden sind. Die Regeln, die hinter den Wortformen und der Wortbildung stecken, haben damit zu tun, wie die Bedeutungen organisiert sind. Regeln vereinfachen den Aufbau des Wörterbuches und reduzieren es auf ein erlernbares Maß. Hätten wir für jede Bedeutung bzw. Bedeutungskombination ein eigenes untrennbares Wort, reichte alles Papier der Welt nicht, um diese Wörter zu notieren. Deshalb trennen wir die Bedeutungen auf und können sie dadurch so kombinieren, dass das Ergebnis die gewünschte Gesamtbedeutung trägt. Das ist einer der Grundsätze, die Sprache zu einem so mächtigen Werkzeug machen. | ||
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+ | Analog zu den Lauten, bei denen zwischen den Phonen (den realisierten Lauten) und den Phonemen (den theoretischen Lauteinheiten) unterschieden wird, wird in der Morphologie von Morphemen (den theoretischen Einheiten, denen die Bedeutungen zugrunde liegen) und '''Morphen''' (den lautlich realisierten Varianten) gesprochen. Anders als bei der Lautlehre müssen wir uns hier aber nicht darum kümmern, wie ähnlich sich die Morphe sind. Das Pluralmorphem etwa wird im Deutschen beispielsweise durch die Morphe ''-en'' oder ''-s'' wiedergegeben. Diese (wieder einmal analog zur Lautlehre) als '''Allomorphe''' bezeichneten Morphe haben keinerlei lautlichen Zusammenhang. | ||
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+ | Und noch eine Besonderheit finden wir bei dem Pluralmorphem. Es gibt nämlich Wörter, die scheinen die Information über den Numerus gar nicht zu brauchen, er wird implizit mitgeliefert: ''ein Kragen und viele Kragen''. Der Sprachwissenschaftler wendet hierbei einen einfachen Trick an, um dieses Problem zu lösen: Er erfindet das '''Nullmorphem'''. Da wird dann also ein Morphem angenommen, das einfach nicht realisiert wird. | ||
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+ | Jetzt kann ein Morph aber auch zu unterschiedlichen Morphemen gehören, die nichts miteinander zu tun haben, etwas das Pluralmorph ''-s'' und das Kasusmorph (Genitiv) ''-s''. Gleiche Morphe, die zu unterschiedlichen Morphemen gehören, sind '''Homonyme'''. | ||
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+ | Zusammengefasst haben wir drei Arten von Morphemen, mit lexikalischer, grammatischer, oder sowohl lexikalischer als auch grammatischer Bedeutung. Diese werden durch ihre Morphe realisiert, die recht unterschiedlich und lautlich mit Morphen anderer Morpheme identisch sein können. | ||
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==Freie und gebundene Morpheme== | ==Freie und gebundene Morpheme== | ||
+ | Als Grundlage für ein Wort nehmen wir zunächst einmal ein Morphem mit einer zugrundeliegenden Bedeutung an, das dann durch andere Morpheme erweitert werden kann oder muss. Dieses Morphem ist der Grundbaustein unseres Wortes, die '''Wurzel''', die durch andere Morpheme beliebig erweitert werden kann. Daraus kann ein neues Wort entstehen, indem die Grundbedeutung durch das andere Morphem erweitert oder verändert wird. Drei Möglichkeiten haben wir, die Wurzel zu erweitern: Flexion, Derivation und Komposition. | ||
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+ | Die '''Komposition''' ist dabei die einfachste Art, eine neue Bedeutung zu kreieren. Es werden zwei oder mehr Morpheme aneinander gereiht, manchmal auch durch ein Fugenmorphem getrennt. (Ein Fugenmorphem ist ein Morphem, das (scheinbar) bedeutungsleer ist, wie z.B. das ''-n-'' in dem aus ''Fuge'' und ''Morphem'' zusammengesetzten Wort ''Fugenmorphem''.) Das Ergebnis ist eine neue zusammengefasste Einheit, die wie ein einzelnes Morphem behandelt werden kann, der '''Stamm'''. Auch bei der '''Derivation''' entsteht ein Stamm, aber es werden spezielle Morpheme verwendet, die nicht frei als einzelnes Wort vorkommen können, sondern an ein anderes Morphem gebunden sein müssen, wie z.B. ''-ig, -lich, -ung, -tion''. Komposition und Derivation sind Strategien der Wortbildung, da hier neue Wörterbucheinträge generiert werden. Die '''Flexion''' dagegen erzeugt lediglich andere Wortformen, denn damit wird das regelbasierte Anhängen von rein grammatischen Morphemen bezeichnet. Der Übergang zwischen Flexion und Derivation ist allerdings nicht immer klar, da auch die Derivation oft bestimmten Regeln unterliegt. | ||
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+ | Manche Morpheme lassen das alles nicht mit sich machen und kommen nur in einem ganz bestimmten Kontext vor, entweder gebunden an ein ganz bestimmtes anderes Morphem, wie ''Him-'' in ''Himbeere'' oder frei in einer bestimmten Phrase, wie ''kith'' in ''kith and kin "Freunde und Verwandte"''. Solche Morpheme sind '''unikal'''. Ist der Kontext etwas größer gefasst, so dass das Morphem also an verschiedene Morpheme oder Stämme mit vergleichbarer Bedeutung gehängt werden kann, spricht man von einem '''Konfix'''. Ein Konfix ist also ein gebundenes Morphem, das nur in einem bestimmten (kleinen) Bedeutungsrahmen verwendet werden kann. Beispiele für Konfixe sind ''bio-'' und ''schwieger-''. | ||
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+ | Eine besondere Form der gebundenen Morpheme nehmen die '''Klitika''' ein. Bei einem Klitikon handelt es sich um ein meist unbetontes "Wort", das sich an ein anderes Wort anlehnt. Entweder bestimmt die Wortart (zum Beispiel am Verb) oder die Position im Satz (zum Beispiel an der zweiten Stelle), an welches Wort das Klitikon gehängt wird. Die Unterscheidung zum Affix gestaltet sich recht schwierig, da das Klitikon irgendwo zwischen einem selbstständigen Wort und einem Affix einzuordnen und der Übergang fließend ist. Ein gutes Beispiel ist das englische Genitiv''-'s'': In ''the queen's crown'' sieht dieses ''-'s'' wie ein ganz normales Affix aus, das an das gleiche Wort angehängt ist, auf das es sich bezieht. Wenn ich jetzt allerdings die Königin genauer spezifizieren will, wandert das Klitikon an das Ende der erweiterten Nominalphrase, obwohl es sich inhaltlich immer noch auf die Königin bezieht und nicht auf das Land, in dem sie herrscht: ''the queen of England's crown''. | ||
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==Affixe== | ==Affixe== | ||
− | + | Wie oben erwähnt gibt es Derivations- und Flexionsmorpheme. Bei beiden Gruppen handelt es sich um gebundene Morpheme, die keine unikalen Morpheme, Konfixe oder Klitika sind. Die Derivationsmorpheme können aber dennoch Restriktionen unterliegen, die den Gebrauch stark einschränken. Den Derivations- und Flexionsmorphemen ist außerdem gemeinsam, dass sie Träger grammatischer und nicht lexikalischer Bedeutung sind. Wegen ihrer Gemeinsamkeiten werden sie Affixe genannt. Unterschieden werden die Affixe nach ihrer Position, die so natürlich auch auf die anderen gebundenen Morpheme übertragbar sind. | |
− | == | + | *Präfix - Das Affix kann '''vor''' den Stamm gesetzt werden. Beispiele: ''ab-(ziehen)'', ''be-(arbeiten)'' |
− | + | *Suffix - Das Affix kann '''hinter''' den Stamm gesetzt werden. Beispiele: ''(Frei)-heit'', ''(tu)-st'' | |
+ | *Zirkumfix - Das Affix kann aus zwei Teilen bestehen, das '''um''' den Stamm '''herum''' gesetzt wird. Beispiel: ''ge-(brauch)-en'' | ||
+ | *Infix - Das Affix kann '''in''' ein anderes Morphem gesetzt werden. Beispiel (in der Sprache Tagalog): ''(s)-in-(ulat)'' "geschrieben" | ||
+ | *Interfix - Das Affix kann '''zwischen''' zwei Stämme gesetzt werden. Beispiel: ''(Maus)-e-(speck)'' | ||
+ | *Transfix - Das Affix besteht aus zwei Teilen, von dem ein Teil '''in''' ein anderes Morphem gesetzt wird. Beispiel (in der Sprache Hausa): ''(gár)-àà-(k)-áá'' (Herden) | ||
+ | Affixe können aber auch aus Merkmalen bestehen. Dann wird ein zugrundeliegendes Morphem manipuliert, sodass das Affix nicht direkt als ein solches erkennbar ist. | ||
+ | *Umlaut - Das Affix besteht aus einer phonemischen Verschiebung, meist den Vokal betreffend. Beispiel: ''Vater -> Väter'' | ||
+ | *Suprafix - Das Affix besteht aus einer Ton- oder Tonakzentverschiebung. Beispiel (in der Sprache Ejagham): ''afag'' "sie haben gewischt" -> ''afâg'' "sie wischten" -> ''áfág'' "sie sollten wischen" | ||
+ | *Duplifix - Das Affix besteht aus einer Verdoppelung eines Morphems. Beispiel: ''Ururenkel'' | ||
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+ | ==Typologie== | ||
+ | Spätestens an dieser Stelle solltest du dir überlegen, wie viel du in Affixen unterbringen willst. Es gibt vier "Idealtypen" von Sprachen, die den Umgang mit Affixen beschreiben. Der Begriff Idealtyp soll keineswegs werten, aber du wirst keine irdische Sprache finden, die ganz genau einem Typus entspricht. Vielmehr sind alle Sprachen irgendwo zwischen den Idealtypen einzuordnen. So kann man die deutsche Sprache als ideales Anschauungsobjekt verwenden, weil sie eine gute Mischung der Typen bietet. | ||
+ | ;Isolierende Sprachen | ||
+ | :Die prototypische isolierende Sprache hat keine Affixe. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass sie eine sehr starre Satzstruktur besitzt, da Affixe dafür sorgen, dass man die Zugehörigkeit der einzelnen Wörter zueinander erkennen kann. Da dieser Mechanismus in isolierenden Sprachen wegfällt, muss der Bezug untereinander über die Satzstruktur laufen. Sprachen, die einen besonders starken isolierenden Charakter besitzen, sind Mandarin und Thai, aber auch Englisch tendiert zu einer isolierenden Struktur. Im Deutschen isolieren die Artikel in einigen Fällen den Kasus vom Substantiv. ''der/dem/den Berg'' | ||
+ | ;Agglutinierende Sprachen | ||
+ | :Das genaue Gegenteil zur isolierenden Sprache ist die agglutinierende Sprache. Typischerweise sollten hier alle grammatischen Bedeutungen in Affixen an die Stämme angehängt werden, und zwar jede Bedeutung separat. Jede Sprache ist zwischen der deutlichen Isolierung und der Agglutinierung hin und her gerissen, da beide Systeme ihre Vor- und Nachteile haben. Bei der idealen agglutinierenden Sprache spielt die Wortreihenfolge im Satz keine Rolle. Sprachen, die besonders intensiv agglutinieren, sind Finnisch und Türkisch. Im Deutschen sind die Verben in vielen Fällen agglutinierend organisiert. ''mach-t-e-n (Tempus-Person-Numerus)'' | ||
+ | ;Flektierende Sprachen | ||
+ | :Die meisten Steine legen dem Lernenden die flektierenden Sprachen in den Weg. Hierbei handelt es sich um Sprachen, die sehr starken Gebrauch von Simulfixen machen. Die idealtypische flektierende Sprache verändert sich also lediglich im Wortstamm. Das hat eine deutliche Reduzierung der sichtbaren Affixe zur Folge. Besonders ausgeprägt ist der flektierende Charakter im Sanskrit und im Russischen. Im Deutschen findet sich der flektierende Charakter in Substantiven (''Vater/Väter'') und Verben (''brechen/brach/gebrochen''). | ||
+ | :Oft werden die flektierenden Sprachen auch mit den fusionalen Sprachen gleich gesetzt. Fusionale Sprachen tragen mehr als eine grammatische Bedeutung in einem Affix. Damit sind sie ein Gegensatz zu den agglutinierenden Sprachen, die für jede grammatische Bedeutung ein separates Affix haben. Hier wären vor allem Latein und Deutsch zu nennen. | ||
+ | ;Polysynthetische Sprachen | ||
+ | :Einige Sprachen haben den Hang dazu, möglichst viel Information in ein Wort zu packen. Die polysynthetische Sprache schlechthin kennt nur ein Wort pro Satz, in dem alle grammatischen, aber auch lexikalischen Bedeutungen enthalten sind. Typisch ist auch die Polypersonalität. Die Poly... was? Die Polypersonalität bezeichnet den Umstand, dass mehr als eine Person am Verb gekennzeichnet ist. Das ist zum Beispiel in den athabaskischen Sprachen in Nordamerika der Fall, die zusammen mit den Eskimosprachen oft als klassische Beispiele für polysynthetische Sprachen genannt werden. Auch in der deutschen Sprache finden wir Züge polysnthetischen Verhaltens. Zusätzliche lexikalische Bedeutungen wie in ''radfahren'' an das Verb zu hängen, oder die praktisch unbegrenzte Möglichkeit der Komposition wie in ''Donaudampfschifffahrt'' sind typisch für polysynthetische Sprachen. | ||
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+ | Ein anderer Ansatz, der die genannte Typisierung aber aufgreift, ist die Betrachtung von Parametern: die Anzahl der Morpheme pro Wort und der Fusionsgrad. Diese Parameter verleiten einen schnell dazu, zu glauben, man könne sie messen. Schön wär's. Aber für unsere Zwecke reicht die Betrachtung der Parameter und die daraus folgenden Schlüsse. | ||
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+ | Bei den Parametern haben wir wieder Idealtypen und unsere Sprachen sind irgendwo dazwischen. Das eine Ende der Skala '''Morpheme pro Wort''' bilden die isolierenden Sprachen. Hier besteht ein Wort aus genau einem Morphem. Auf der anderen Seite haben wir die polysynthetischen Sprachen, die alle Morpheme in ein Wort packen. Der '''Fusionsgrad''' bildet die Opposition zwischen den agglutinierenden und isolierenden Sprachen einerseits und den fusionalen Sprachen andererseits ab. Die agglutinierenden und isolierenden Sprachen haben genau eine Bedeutung pro Morphem und die fusionalen Sprachen setzen quasi alles auf eine Karte und bringen möglichst viele Bedeutungen in nur einem Morphem unter. |