31.03.2024, 09:43
Liam fand sich auf feinen Sandstrand wieder, vor ihm schwebte ein Kimeragespenst. „Ich schlage vor, dass du, sowie du in deiner Zeit angekommen bist, einen schönen Anzug kaufst. Du wirst ihn brauchen.“
Liam klappte seinen Mund weit auf. „Was? Das ist so bald?“
„Du wirst sehen“, sagte Haʼgel breit grinsend, dann löste er sich in Luft auf.
Damit stand Liam sehr verdutzt auf einer unbewohnten Insel der Seychellen. Ein Stück entfernt wanderte ziellos Sandoval über den Strand, Melody und Ava waren nirgendwo in Sicht. Liam seufzte und stapfte los, direkt zum Implantanten, der stehenblieb und ihn freundlich lächelnd ansah.
Wieso sah ihn Sandoval freundlich lächelnd an?
Liam runzelte die Stirn. „Wo sind Ava und Melody?“
„Auf dem Weg hierher, unabhängig voneinander“, sagte Sandoval. „Ich schlage vor, Sie stehen hinter mir, falls Melody zuerst ankommt.“
„Was?“
„Ich bin in der Schleife, Sie nicht!“
Liam starrte ihn an. In was für einer Schleife? Einen Moment später trat Sandoval an ihm vorbei und zwischen ihn und den Wald der Insel, aus dem gerade Melody gerannt kam.
„Er weiß es nicht mehr!“, rief der Implantant. „Bitte erschießen Sie ihn nicht!“
Sie blieb abrupt stehen, zögerte kurz, dann kam sie langsamer hergelaufen. „Wie? Was ist passiert?“
„Er musste annehmen, dass er mit einem CVI mit menschenfreundlichem Imperativ implantiert werden sollte“, erklärte Sandoval. „Er ist Amok gelaufen auf der Suche nach dem Portal und demjenigen, der es kontrolliert.“
„Was?“, platzte Liam heraus. „Ich?“
„Gehirnwäsche überdauert Schleifendurchgänge.“
Da blieb ihm nichts, als sich an den Kopf zu greifen. „Ach du verdammte ...“ Das hätte ja als galaxisweite Katastrophe enden können, mit Taelons, die die Zeit beherrschten!
„Und wer kontrolliert jetzt das Portal?“, fragte Melody.
Sandoval schmunzelte knapp. „Der junge Liam. Er wird bald hier sein und die Kontrolle zurückgeben.“
Ava kam nun herangelaufen, sie schnaufte angestrengt. „Entschuldigung, hat etwas gedauert. Aber Melody hat dich ja am Leben gelassen.“
Liam seufzte. „Ja ... dank Sandoval.“ Er musterte den Implantanten irritiert. „Warum ist er überhaupt in der Schleife?“, fragte er dann.
„Ich hatte nicht viel Auswahl“, gab Melody zurück. „Der gesamte Widerstand war auf dem Mutterschiff in einer Zelle. Ich habe eine Schleife mit dem hier heimischen Portal erstellt, aber was später passiert ist, vor allem auch mit dem Portal aus der Zukunft, weiß ich nicht, weil ich ständig erschossen wurde.“
Jetzt sah er zu ihr. „Von mir? Entschuldigung“, murmelte er.
Ein Shuttle verließ die Interdimension und landete neben ihnen, darin war nur der junge Liam, der es auch selbst gesteuert hatte. Er sprang auf den Sandstrand und grinste sein älteres Selbst an. „Habe ich nicht schlecht gemacht, oder?“, fragte er.
„Geflogen?“, fragte der ältere. „Ich weiß, dass du das kannst.“
„Das meine ich nicht.“ Der jüngere atmete tief durch. „Ich zeige dir, was passiert ist, an was du dich nicht erinnern kannst“, sagte er und bot eine Hand, in der es sachte glühte. „Vieles habe ich allerdings nur erzählt bekommen und war nicht selbst dabei.“
Der ältere Liam nickte, das würde seine noch immer bestehende Verwirrung definitiv lindern. Er legte seine Hand gegen die seines jüngeren Selbsts, die Erinnerungen strömten ungefiltert auf ihn ein. Die Erinnerungen waren nicht fremd, sie fühlten sich an, als hätte er sie wirklich durchlebt und jetzt gehörten sie ihm, nur mehr ihm, nur mehr er würde sie nach dem nächsten Rücksprung noch haben.
Unwillkürlich schüttelte er sich aber. Es war nicht angenehm, sich selbst als gehirngewaschenen skrupellosen Taelonschergen zu sehen. Mitʼgai hatte offenbar ganze Arbeit geleistet.
„Ich übergebe die Kontrolle an dich“, sagte der jüngere, eilte zum Portal und legte kurz seine Hand in die Einbuchtung.
Der ältere Liam lief ihm nach und griff dann auch hinein.
Er hatte die Kontrolle über das Portal, er löste die innere Schleife auf und fügte der äußeren genau die ursprünglichen Zeitreisenden hinzu, verkürzte sie auch, dass sie wenige Minuten später enden würde. Dann wandte er sich um und stand direkt Sandoval gegenüber.
Der Implantant musterte ihn. „Ich schlage vor, Sie achten zukünftig besser darauf, nicht gefangengenommen zu werden.“
„Äh ... ja.“ Liam kratzte sich am Kopf. „Die Schleife endet bald.“
„Ich werde mich an nichts erinnern, ich weiß. Es bleibt keine Wahl.“ Sandoval straffte sich. „Sie entschuldigen mich?“ Dann wandte er sich ab und ging zurück zu Ava direkt ans Wasser.
Er umarmte sie.
Liam runzelte verdutzt die Stirn. Da halfen ihm die Erinnerungen des jungen Liam auch nicht weiter, und diesem ging es ganz genauso: Er starrte mit offenem Mund.
„Also ... da fehlt mir was“, konstatierte Melody, „aber gut für die beiden.“
~~~
Liam fand sich in einer verlassenen Lagerhalle wieder, bei ihm waren Melody, Ava, Lili und William. Er wandte sich den letzten beiden zu und fragte: „Wo waren Sie beim Rücksprung?“
„Wir waren in Verona Eis essen“, sagte Lili.
Melody lachte leise. „Das wäre eine Idee.“ Sie straffte sich. „Was machen wir jetzt?“
„Wir gehen definitiv nicht aufs Mutterschiff“, sagte Liam fest, „am Ende blüht mir sonst wieder eine Gehirnwäsche.“
„Dann suchen wir den Ursprung der Visionen!“, schlug Melody vor. „Wir machen eine kurze Schleife um die Vision, fünf Minuten oder so, und testen verschiedene Orte.“
„Gut, machen wir das.“ Er griff in die Einbuchtung des Portals, die weiße Fläche leuchtete auf. „Reise bis knapp vor der Vision“, kündigte er an, dann ging er hindurch und seine Begleiter folgten ihm.
Im ersten Durchgang testeten sie Oregon und Florida, weder Melody noch Liam hatten eine Vision. Sie wanderten näher, auch in Wisconsin und Ohio war nichts zu spüren. Delaware und New Jersey? Nein, auch nicht.
Wo immer die Visionen herkamen, es musste wirklich nahe sein, sehr nahe.
Sie versuchten es mit Stadtteilen und, tatsächlich, die Vision ließ sich passabel auf etwa zwei Quadratkilometer eingrenzen. Im sechsten, siebten und achten Durchgang testeten sie, ob das Areal kreisförmig war oder nicht - und es war kreisförmig. Damit war davon auszugehen, dass der Ursprung in der Mitte lag.
Was war dort?
Laut Stadtplan auf dem Global war dort eine Lagerhalle.
Liam löste die kleine innere Schleife auf und brachte das Portal zurück in die verlassene Lagerhalle, Lili, Ava und William waren bereits hier. „Wir haben den Ort“, sagte er, „eine Lagerhalle. Ich bringe uns in die Nähe, aber nicht direkt hinein, wir haben keine Ahnung, was uns erwartet.“ Schnell aktivierte er das Portal, dann gingen sie alle hindurch auf einen gepflegten Hof mit vier Ladebuchten, in einer stand ein 15-Tonner, der Fahrer saß im Führerhaus und las Zeitung.
Verlassen war diese Halle jedenfalls nicht. Melody ging voraus zur Tür und zog daran, unverschlossen. Dahinter war ein Schreibtisch, ein Mann tippte auf einem Computer. „Einen Moment bitte“, sagte er, „aber suchen Sie schon mal Ihren Bestellschein raus, den brauche ich dann.“
Liam wechselte einen Blick mit Ava, dann trat er nach vorne neben Melody. „Wir haben keinen. Wir sind auf der Suche nach einem ... wie soll ich sagen?“
„Ohne Bestellschein kann ich nichts machen. Zum Suchen haben wir einen Online-Katalog.“
Melody lehnte sich nach vorne. „Können Sie mir die Adresse aufschreiben, bitte?“ Der Mann griff sich einen Klebezettel, krakelte eilig und wenig lesbar und übergab ihn ihr schließlich. „Vielen Dank. Wir melden uns“, sagte sie, dann wandte sie sich um und ging voraus durch die Tür hinaus, die anderen Zeitreisenden folgten ihr.
Draußen seufzte Liam. „Also, bei verlassenen Hallen ist es einfacher.“
„Wir probieren es rundherum“, schlug sie vor. „Vielleicht gibt es noch einen Eingang oder sonst etwas.“
„Ja, vielleicht.“
Er ging voran, bog bei der Ecke rechts ab. Auf dieser Seite der Halle waren keine Fenster und Türen, dafür aber ein breites Beet mit Büschen und Blumen, das die Betonwüste etwas auflockerte. Eine Ecke weiter war die Hallenfront dann wieder interessanter: Hier war offenbar die Firmenleitung untergebracht, die breite Glastüre unter einem halbkuppeligen Vordach war kein Vergleich zur lacksplitternden Metalltüre auf der anderen Seite der Halle.
„Das Zeitportal!“, platzte Lili heraus. „Da drin steht es!“
Liam ging voran in die Vorhalle, es gab einen elegant geschwungenen Rezeptionstisch, hinter dem eine Dame im Hosenanzug stand, und, tatsächlich, das Zeitportal, neben dem ein prominenter Aufsteller in großer Schrift kundtat, dass es ein Kunstwerk eines lokalen Künstlers war, das hier für einige Wochen ausgestellt wurde.
War es ein einfacher Nachbau aus Gips oder das echte Portal?
Liam streckte seine Hand nach der Einbuchtung.
„Bitte nicht anfassen, sonst müssen wir rote Kordeln drum spannen“, erklang vom Rezeptionstisch. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Was macht denn der Künstler sonst so?“, fragte Melody. „Das da sieht richtig interessant aus.“
„Weiß ich nicht. Moderne Kunst ist nicht mein Ding.“ Die Rezeptionistin lehnte sich etwas über ihren Tisch und rollte mit den Augen. „Ich meine, so gut ist die Aussicht von unserem Dach jetzt auch nicht, dass man die malen oder schnitzen müsste oder so ...“
„Ist er etwa gerade auf dem Dach oben?“, fragte Liam verdutzt.
„Ja genau.“
„Irre ...“, murmelte er, wandte sich um und trat hinaus ins Freie.
„Feuerleiter“, sagte William und wies nach rechts.
Wenig später waren sie alle auf dem Dach und sahen sich um. Es war recht verwinkelt und hatte etliche technische Aufbauten, Lüftung, Heizung, Kühlung, dazu auch noch Solarpanels und einige Elemente mit Dachbegrünung. Schussbereit schlichen die fünf über das Dach, schließlich fanden sie eine Zeltmuschel und traten vor den Eingang.
Zwei Personen kamen heraus: Daʼan und Ronald Sandoval, letzterer in schreiend bunter Kleidung, wie man sie eher in Augurs Kleiderschrank fand. Oder ... nein! Kein Skrill! Das war Haʼgel!
Liam musterte die beiden verwirrt. „Ich verstehe nicht ...“, gab er zu.
„Daʼan!“ Lili war perplex. „Was tun Sie hier?“
„Vierter Durchgang der äußersten Schleife“, sagte Haʼgel, „wobei wir nicht mitgezählt haben. Ich habe uns aus der Schleife genommen, damit wir wirklich jeden Durchgang ganz genau dasselbe machen.“
„Wir haben die Visionen geschickt, von William Boones Tod und von Qoʼons Tod“, ergänzte Daʼan. „Bildlich, räumlich und exakt, wie aus den Erinnerungen von Agent Sandoval und mir selbst.“
„Aber ...“, murmelte Liam, „Vater, du hast doch gesagt, dass du die Visionen nicht geschickt hast!“
„Hat er nicht gesagt“, warf Melody ein. „Du hast ihn gefragt, ob er die Visionen aus der nächsten Ebene geschickt hat, und das konnte er korrekt verneinen.“
Er seufzte ausgiebig. „Echt, bei Gespenstern muss man mit der Wortwahl ziemlich aufpassen ...“
Haʼgel lachte kurz. „Ich werde es mir merken und richtig antworten.“
„Ihr seid zukünftig“, bemerkte Liam, „für uns, meine ich. Wie weit?“
„Nicht so weit, dass Ronalds Haare grau werden hätten können“, sagte der Kimera in Ronalds Gestalt.
„Ihr seid also aus genau der gleichen Zeit wie er, nicht noch weiter zukünftig?“
„Richtig. Du wirst es dann schon sehen.“
Daʼan lächelte sachte, legte den Kopf schief und sagte: „Kehrt zurück. Wir werden noch bleiben, wir haben noch nicht alle Visionen geschickt.“
„Und was ist mit Qoʼon und seinen Projekten?“, fragte Lili.
„Nicht diesmal“, beharrte Haʼgel. „Geht jetzt.“
Also taten sie das. Sie kletterten vom Dach und kehrten zum Portal auf dem Hof zurück. Der 15-Tonner war inzwischen weg, der Mann aus dem Lagerbüro stand mit einem kleinen Rest Hotdog am Zaun.
„Künstler ...“, murmelte er kopfschüttelnd. „Jetzt hat der hier noch so ein Trumm aufgestellt ...“ Er wies auf das Portal.
„Ich kann mir hässlichere Kunst vorstellen“, sagte Liam.
„Ja, das schon.“ Der Mann aß den letzten Bissen und leckte sich die Finger sauber. „Hoffentlich holt das bald diese Galerie ab ... aber ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Sehr erfolgreich ist er nämlich nicht, außer bei unserem Chef, warum auch immer.“ Er zuckte mit den Schultern. „Schönen Tag noch!“ Dann machte er sich auf den Weg zurück in sein Büro.
„Haʼgel als exzentrischer Künstler in Augurs Garderobe, das ist schon etwas“, murmelte William. „Vermutlich trägt er zur Interaktion mit den Leuten hier noch eine riesige Sonnenbrille, das braucht man als exzentrischer Künstler ja - und es verdeckt die Ähnlichkeit zu Agent Sandoval.“
Liam lachte auf, dann legte er seine Hand in die Einbuchtung, die weiß schimmernde Fläche erschien im Portal.
Ava räusperte sich. „Ich schlage vor, die Hochzeitsankündigung nicht zu erwähnen“, sagte sie. „Haʼgel hat ihm von der zukünftigen Freundin erzählt, das genügt.“
„Einverstanden.“ Damit stieg Liam ins Portal.
Einen Moment später fand er sich in einer Lagerhalle in der Gegenwart wieder, bei ihm Lili, William, Ava und Melody - und ein sichtlich neugieriger Ronald, dem definitiv nicht von der Hochzeitsankündigung erzählt würde.
Liam klappte seinen Mund weit auf. „Was? Das ist so bald?“
„Du wirst sehen“, sagte Haʼgel breit grinsend, dann löste er sich in Luft auf.
Damit stand Liam sehr verdutzt auf einer unbewohnten Insel der Seychellen. Ein Stück entfernt wanderte ziellos Sandoval über den Strand, Melody und Ava waren nirgendwo in Sicht. Liam seufzte und stapfte los, direkt zum Implantanten, der stehenblieb und ihn freundlich lächelnd ansah.
Wieso sah ihn Sandoval freundlich lächelnd an?
Liam runzelte die Stirn. „Wo sind Ava und Melody?“
„Auf dem Weg hierher, unabhängig voneinander“, sagte Sandoval. „Ich schlage vor, Sie stehen hinter mir, falls Melody zuerst ankommt.“
„Was?“
„Ich bin in der Schleife, Sie nicht!“
Liam starrte ihn an. In was für einer Schleife? Einen Moment später trat Sandoval an ihm vorbei und zwischen ihn und den Wald der Insel, aus dem gerade Melody gerannt kam.
„Er weiß es nicht mehr!“, rief der Implantant. „Bitte erschießen Sie ihn nicht!“
Sie blieb abrupt stehen, zögerte kurz, dann kam sie langsamer hergelaufen. „Wie? Was ist passiert?“
„Er musste annehmen, dass er mit einem CVI mit menschenfreundlichem Imperativ implantiert werden sollte“, erklärte Sandoval. „Er ist Amok gelaufen auf der Suche nach dem Portal und demjenigen, der es kontrolliert.“
„Was?“, platzte Liam heraus. „Ich?“
„Gehirnwäsche überdauert Schleifendurchgänge.“
Da blieb ihm nichts, als sich an den Kopf zu greifen. „Ach du verdammte ...“ Das hätte ja als galaxisweite Katastrophe enden können, mit Taelons, die die Zeit beherrschten!
„Und wer kontrolliert jetzt das Portal?“, fragte Melody.
Sandoval schmunzelte knapp. „Der junge Liam. Er wird bald hier sein und die Kontrolle zurückgeben.“
Ava kam nun herangelaufen, sie schnaufte angestrengt. „Entschuldigung, hat etwas gedauert. Aber Melody hat dich ja am Leben gelassen.“
Liam seufzte. „Ja ... dank Sandoval.“ Er musterte den Implantanten irritiert. „Warum ist er überhaupt in der Schleife?“, fragte er dann.
„Ich hatte nicht viel Auswahl“, gab Melody zurück. „Der gesamte Widerstand war auf dem Mutterschiff in einer Zelle. Ich habe eine Schleife mit dem hier heimischen Portal erstellt, aber was später passiert ist, vor allem auch mit dem Portal aus der Zukunft, weiß ich nicht, weil ich ständig erschossen wurde.“
Jetzt sah er zu ihr. „Von mir? Entschuldigung“, murmelte er.
Ein Shuttle verließ die Interdimension und landete neben ihnen, darin war nur der junge Liam, der es auch selbst gesteuert hatte. Er sprang auf den Sandstrand und grinste sein älteres Selbst an. „Habe ich nicht schlecht gemacht, oder?“, fragte er.
„Geflogen?“, fragte der ältere. „Ich weiß, dass du das kannst.“
„Das meine ich nicht.“ Der jüngere atmete tief durch. „Ich zeige dir, was passiert ist, an was du dich nicht erinnern kannst“, sagte er und bot eine Hand, in der es sachte glühte. „Vieles habe ich allerdings nur erzählt bekommen und war nicht selbst dabei.“
Der ältere Liam nickte, das würde seine noch immer bestehende Verwirrung definitiv lindern. Er legte seine Hand gegen die seines jüngeren Selbsts, die Erinnerungen strömten ungefiltert auf ihn ein. Die Erinnerungen waren nicht fremd, sie fühlten sich an, als hätte er sie wirklich durchlebt und jetzt gehörten sie ihm, nur mehr ihm, nur mehr er würde sie nach dem nächsten Rücksprung noch haben.
Unwillkürlich schüttelte er sich aber. Es war nicht angenehm, sich selbst als gehirngewaschenen skrupellosen Taelonschergen zu sehen. Mitʼgai hatte offenbar ganze Arbeit geleistet.
„Ich übergebe die Kontrolle an dich“, sagte der jüngere, eilte zum Portal und legte kurz seine Hand in die Einbuchtung.
Der ältere Liam lief ihm nach und griff dann auch hinein.
Er hatte die Kontrolle über das Portal, er löste die innere Schleife auf und fügte der äußeren genau die ursprünglichen Zeitreisenden hinzu, verkürzte sie auch, dass sie wenige Minuten später enden würde. Dann wandte er sich um und stand direkt Sandoval gegenüber.
Der Implantant musterte ihn. „Ich schlage vor, Sie achten zukünftig besser darauf, nicht gefangengenommen zu werden.“
„Äh ... ja.“ Liam kratzte sich am Kopf. „Die Schleife endet bald.“
„Ich werde mich an nichts erinnern, ich weiß. Es bleibt keine Wahl.“ Sandoval straffte sich. „Sie entschuldigen mich?“ Dann wandte er sich ab und ging zurück zu Ava direkt ans Wasser.
Er umarmte sie.
Liam runzelte verdutzt die Stirn. Da halfen ihm die Erinnerungen des jungen Liam auch nicht weiter, und diesem ging es ganz genauso: Er starrte mit offenem Mund.
„Also ... da fehlt mir was“, konstatierte Melody, „aber gut für die beiden.“
~~~
Liam fand sich in einer verlassenen Lagerhalle wieder, bei ihm waren Melody, Ava, Lili und William. Er wandte sich den letzten beiden zu und fragte: „Wo waren Sie beim Rücksprung?“
„Wir waren in Verona Eis essen“, sagte Lili.
Melody lachte leise. „Das wäre eine Idee.“ Sie straffte sich. „Was machen wir jetzt?“
„Wir gehen definitiv nicht aufs Mutterschiff“, sagte Liam fest, „am Ende blüht mir sonst wieder eine Gehirnwäsche.“
„Dann suchen wir den Ursprung der Visionen!“, schlug Melody vor. „Wir machen eine kurze Schleife um die Vision, fünf Minuten oder so, und testen verschiedene Orte.“
„Gut, machen wir das.“ Er griff in die Einbuchtung des Portals, die weiße Fläche leuchtete auf. „Reise bis knapp vor der Vision“, kündigte er an, dann ging er hindurch und seine Begleiter folgten ihm.
Im ersten Durchgang testeten sie Oregon und Florida, weder Melody noch Liam hatten eine Vision. Sie wanderten näher, auch in Wisconsin und Ohio war nichts zu spüren. Delaware und New Jersey? Nein, auch nicht.
Wo immer die Visionen herkamen, es musste wirklich nahe sein, sehr nahe.
Sie versuchten es mit Stadtteilen und, tatsächlich, die Vision ließ sich passabel auf etwa zwei Quadratkilometer eingrenzen. Im sechsten, siebten und achten Durchgang testeten sie, ob das Areal kreisförmig war oder nicht - und es war kreisförmig. Damit war davon auszugehen, dass der Ursprung in der Mitte lag.
Was war dort?
Laut Stadtplan auf dem Global war dort eine Lagerhalle.
Liam löste die kleine innere Schleife auf und brachte das Portal zurück in die verlassene Lagerhalle, Lili, Ava und William waren bereits hier. „Wir haben den Ort“, sagte er, „eine Lagerhalle. Ich bringe uns in die Nähe, aber nicht direkt hinein, wir haben keine Ahnung, was uns erwartet.“ Schnell aktivierte er das Portal, dann gingen sie alle hindurch auf einen gepflegten Hof mit vier Ladebuchten, in einer stand ein 15-Tonner, der Fahrer saß im Führerhaus und las Zeitung.
Verlassen war diese Halle jedenfalls nicht. Melody ging voraus zur Tür und zog daran, unverschlossen. Dahinter war ein Schreibtisch, ein Mann tippte auf einem Computer. „Einen Moment bitte“, sagte er, „aber suchen Sie schon mal Ihren Bestellschein raus, den brauche ich dann.“
Liam wechselte einen Blick mit Ava, dann trat er nach vorne neben Melody. „Wir haben keinen. Wir sind auf der Suche nach einem ... wie soll ich sagen?“
„Ohne Bestellschein kann ich nichts machen. Zum Suchen haben wir einen Online-Katalog.“
Melody lehnte sich nach vorne. „Können Sie mir die Adresse aufschreiben, bitte?“ Der Mann griff sich einen Klebezettel, krakelte eilig und wenig lesbar und übergab ihn ihr schließlich. „Vielen Dank. Wir melden uns“, sagte sie, dann wandte sie sich um und ging voraus durch die Tür hinaus, die anderen Zeitreisenden folgten ihr.
Draußen seufzte Liam. „Also, bei verlassenen Hallen ist es einfacher.“
„Wir probieren es rundherum“, schlug sie vor. „Vielleicht gibt es noch einen Eingang oder sonst etwas.“
„Ja, vielleicht.“
Er ging voran, bog bei der Ecke rechts ab. Auf dieser Seite der Halle waren keine Fenster und Türen, dafür aber ein breites Beet mit Büschen und Blumen, das die Betonwüste etwas auflockerte. Eine Ecke weiter war die Hallenfront dann wieder interessanter: Hier war offenbar die Firmenleitung untergebracht, die breite Glastüre unter einem halbkuppeligen Vordach war kein Vergleich zur lacksplitternden Metalltüre auf der anderen Seite der Halle.
„Das Zeitportal!“, platzte Lili heraus. „Da drin steht es!“
Liam ging voran in die Vorhalle, es gab einen elegant geschwungenen Rezeptionstisch, hinter dem eine Dame im Hosenanzug stand, und, tatsächlich, das Zeitportal, neben dem ein prominenter Aufsteller in großer Schrift kundtat, dass es ein Kunstwerk eines lokalen Künstlers war, das hier für einige Wochen ausgestellt wurde.
War es ein einfacher Nachbau aus Gips oder das echte Portal?
Liam streckte seine Hand nach der Einbuchtung.
„Bitte nicht anfassen, sonst müssen wir rote Kordeln drum spannen“, erklang vom Rezeptionstisch. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Was macht denn der Künstler sonst so?“, fragte Melody. „Das da sieht richtig interessant aus.“
„Weiß ich nicht. Moderne Kunst ist nicht mein Ding.“ Die Rezeptionistin lehnte sich etwas über ihren Tisch und rollte mit den Augen. „Ich meine, so gut ist die Aussicht von unserem Dach jetzt auch nicht, dass man die malen oder schnitzen müsste oder so ...“
„Ist er etwa gerade auf dem Dach oben?“, fragte Liam verdutzt.
„Ja genau.“
„Irre ...“, murmelte er, wandte sich um und trat hinaus ins Freie.
„Feuerleiter“, sagte William und wies nach rechts.
Wenig später waren sie alle auf dem Dach und sahen sich um. Es war recht verwinkelt und hatte etliche technische Aufbauten, Lüftung, Heizung, Kühlung, dazu auch noch Solarpanels und einige Elemente mit Dachbegrünung. Schussbereit schlichen die fünf über das Dach, schließlich fanden sie eine Zeltmuschel und traten vor den Eingang.
Zwei Personen kamen heraus: Daʼan und Ronald Sandoval, letzterer in schreiend bunter Kleidung, wie man sie eher in Augurs Kleiderschrank fand. Oder ... nein! Kein Skrill! Das war Haʼgel!
Liam musterte die beiden verwirrt. „Ich verstehe nicht ...“, gab er zu.
„Daʼan!“ Lili war perplex. „Was tun Sie hier?“
„Vierter Durchgang der äußersten Schleife“, sagte Haʼgel, „wobei wir nicht mitgezählt haben. Ich habe uns aus der Schleife genommen, damit wir wirklich jeden Durchgang ganz genau dasselbe machen.“
„Wir haben die Visionen geschickt, von William Boones Tod und von Qoʼons Tod“, ergänzte Daʼan. „Bildlich, räumlich und exakt, wie aus den Erinnerungen von Agent Sandoval und mir selbst.“
„Aber ...“, murmelte Liam, „Vater, du hast doch gesagt, dass du die Visionen nicht geschickt hast!“
„Hat er nicht gesagt“, warf Melody ein. „Du hast ihn gefragt, ob er die Visionen aus der nächsten Ebene geschickt hat, und das konnte er korrekt verneinen.“
Er seufzte ausgiebig. „Echt, bei Gespenstern muss man mit der Wortwahl ziemlich aufpassen ...“
Haʼgel lachte kurz. „Ich werde es mir merken und richtig antworten.“
„Ihr seid zukünftig“, bemerkte Liam, „für uns, meine ich. Wie weit?“
„Nicht so weit, dass Ronalds Haare grau werden hätten können“, sagte der Kimera in Ronalds Gestalt.
„Ihr seid also aus genau der gleichen Zeit wie er, nicht noch weiter zukünftig?“
„Richtig. Du wirst es dann schon sehen.“
Daʼan lächelte sachte, legte den Kopf schief und sagte: „Kehrt zurück. Wir werden noch bleiben, wir haben noch nicht alle Visionen geschickt.“
„Und was ist mit Qoʼon und seinen Projekten?“, fragte Lili.
„Nicht diesmal“, beharrte Haʼgel. „Geht jetzt.“
Also taten sie das. Sie kletterten vom Dach und kehrten zum Portal auf dem Hof zurück. Der 15-Tonner war inzwischen weg, der Mann aus dem Lagerbüro stand mit einem kleinen Rest Hotdog am Zaun.
„Künstler ...“, murmelte er kopfschüttelnd. „Jetzt hat der hier noch so ein Trumm aufgestellt ...“ Er wies auf das Portal.
„Ich kann mir hässlichere Kunst vorstellen“, sagte Liam.
„Ja, das schon.“ Der Mann aß den letzten Bissen und leckte sich die Finger sauber. „Hoffentlich holt das bald diese Galerie ab ... aber ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Sehr erfolgreich ist er nämlich nicht, außer bei unserem Chef, warum auch immer.“ Er zuckte mit den Schultern. „Schönen Tag noch!“ Dann machte er sich auf den Weg zurück in sein Büro.
„Haʼgel als exzentrischer Künstler in Augurs Garderobe, das ist schon etwas“, murmelte William. „Vermutlich trägt er zur Interaktion mit den Leuten hier noch eine riesige Sonnenbrille, das braucht man als exzentrischer Künstler ja - und es verdeckt die Ähnlichkeit zu Agent Sandoval.“
Liam lachte auf, dann legte er seine Hand in die Einbuchtung, die weiß schimmernde Fläche erschien im Portal.
Ava räusperte sich. „Ich schlage vor, die Hochzeitsankündigung nicht zu erwähnen“, sagte sie. „Haʼgel hat ihm von der zukünftigen Freundin erzählt, das genügt.“
„Einverstanden.“ Damit stieg Liam ins Portal.
Einen Moment später fand er sich in einer Lagerhalle in der Gegenwart wieder, bei ihm Lili, William, Ava und Melody - und ein sichtlich neugieriger Ronald, dem definitiv nicht von der Hochzeitsankündigung erzählt würde.
Man kann gar nicht so rundum stromlinienförmig sein, dass es nicht irgendeine Pappnase gibt, die irgendetwas auszusetzen hat.
- Armin Maiwald